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«Dieser Patron hat mich sehr geprägt»

Als Achtjähriger kam Gerardo Vivas ursprünglich nur in die Schweiz, um seinen Vater zu besuchen, der damals als Saisonnier hier arbeitete. Daraus wurden bald 62 Jahre in Arbon – eine beispielhafte berufliche Karriere, ein Identitätskonflikt und schliesslich die Einbürgerung zum Schweizer.

Alice Hofer

Er fühle sich als «Seebueb», erklärt der gut gelaunte Gerardo Vivas heute, nachdem er praktisch sein ganzes Leben in Arbon verbracht hat. «Mit 17 Jahren hatte ich schon Probleme mit meiner Identität», räumt er ein. «War ich nun Schweizer oder Spanier? Mit Kollegen ging ich Fondue und Raclette essen, zu Hause gab es dann wieder Tortillas und Chorizo – das war verwirrend.» Deshalb wählte er beides: Bei der Arbeit gab er den Bünzli, in der Freizeit liess er seinem südländischen Temperament freien Lauf – eine logische Folge, da er sich zwischen den Welten einzupendeln begann. Er empfinde sich gefühlsmässig als Schweizer, erklärt er, da er hier aufgewachsen sei, mit anderen Kindern gespielt, Kirschen stibitzt und den Bauern auf den Feldern geholfen habe – ganz normale Dinge eben.

«Jeder kann etwas erschaffen, wenn er will.»
Gerardo Vivas

Trotz lückenhafter Schulbildung gelang ihm die Lehre zum Mechaniker bei der Firma Saurer AG. Anschliessend folgte er seinem Ehrgeiz in verschiedenen Weiterbildungen, denn er wollte es unbedingt «zu etwas bringen» und Karriere machen. Wie er sagt: «Jahrelang fuhr ich abends nach der Arbeit nach St. Gallen zur Kaderschulung, am Wochenende wurde gelernt, und selbstverständlich habe ich das alles selber bezahlt. In dieser Zeit war von Ferien nicht die Rede.» Nach seiner Weiterbildung hatte er das Glück, Jakob Züllig kennenzulernen. Dieser hemdsärmelige Typ, sehr menschlich, hart aber fair, gab ihm eine Chance und stellte ihn als Personalchef bei der Arbonia AG ein. Als Besitzer der Arbonia-Forster-Gruppe sei Züllig immer ein Vorbild für ihn gewesen, der ihm Vorsicht und Nachsicht beigebracht und gute Ratschläge erteilt habe, wie man mit Mitarbeitenden umzugehen hat. «Dieser Patron hat mich sehr geprägt», sagt Vivas. So pflegte Züllig zu sagen: «Es spielt keine Rolle, wer vor dir steht; wichtig ist nur dein Bauchgefühl dabei.»

Ein Zuhause gefunden

Früh begann Vivas, sich bei Bedarf klar zu positionieren: Wenn Ausländer über die Schweiz herziehen, gebe er ihnen jeweils den Tipp, einfach zur Tür hinauszugehen – über die Landesgrenze. Und wenn Schweizer über Ausländer schimpfen, gebe er stets zu bedenken, dass man nicht alle in einen Topf werfen könne. So interveniert er je nach Gerechtigkeitsempfinden und ist überzeugt: «Ich habe es verdient, ein Schweizer zu sein.» Diese Erkenntnis traf ihn erstmals im Jahr 2017, als er nach einer schweren Operation – trotz aller Warnungen – in die bereits gebuchten Ferien fuhr. Mit seiner Frau reiste er nach Sevilla, wo man Grosses vorhatte, und wo dann unter der glühenden spanischen Sonne erwartungsgemäss der komplette Zusammenbruch erfolgte. Im dortigen Spital sagte er zu seiner Frau: «Ich will nach Hause!», worauf diese ins Staunen geriet. «Du bist doch zu Hause», meinte sie – und ihm wurde blitzartig klar, dass er sich wahrhaftig in der Schweiz heimisch fühlte und genau dort seine Heimat gefunden hatte.

Gerardo Vivas im Jakob-Züllig-Park, benannt nach dem Arboner Unternehmer, der für Vivas immer ein Vorbild war.
Gerardo Vivas im Jakob-Züllig-Park, benannt nach dem Arboner Unternehmer, der für Vivas immer ein Vorbild war.
© Alice Hoffer

Damit kam auch die Eingebung, sich vollends zum Schweizer bekennen zu wollen – was ihm übrigens schon Jakob Züllig vergeblich empfohlen hatte. Vivas: «Ich hatte sozusagen zwei Herzklappen: eine schweizerische und eine spanische. Doch nach meiner Rückkehr aus Sevilla ging ich schnurstracks zur Gemeindeverwaltung und beantragte, Schweizer zu werden. Ich empfand es als die einzig richtige Lösung.» Und obwohl er nicht nur Arbon, sondern auch das gesamte Schweizer System durch und durch kannte, dauerte das Verfahren mit den Befragungen usw. noch zwei Jahre. Er nahm gleich seine kubanische Frau mit ins Boot, die nach 29 Jahren in der Schweiz immer noch gezögert hatte, sich den Prüfungen zu stellen. Und so konnten sie beide gemeinsam die letzten Hürden meistern. Nun sind sie stolze Besitzer des roten Passes und haben gleichzeitig ihre anderen Pässe behalten – ebenso wie das Bekenntnis zur ursprünglichen Herkunft. Und was möchte Gerardo Vivas der heutigen Jugend mit auf den Weg geben? «Jeder macht sich sein Leben selbst und gestaltet es nach eigenem Gutdünken. Es braucht halt Zeit, Opfer und Einsatz – in diesem Leben wird einem nichts geschenkt. Mit all den Instrumenten, die es heute gibt, kann jeder etwas erschaffen, wenn er will.»

Menschen erzählen ihre Geschichten

In der Serie «Lebenslinien» laden wir die ältere Leserschaft (ab 65 Jahren) zum Gespräch ein. Erzählen Sie uns Ihre prägenden Erlebnisse, Einsichten und Weisheiten. «felix.»-Reporterin Alice Hofer besucht Sie gerne in Ihrem Daheim. Die Porträts erscheinen in lockerer Reihenfolge in dieser Rubrik. Wenn auch Sie etwas aus dem Nähkästchen plaudern wollen, melden Sie sich bei uns per Mail an hofer@mediarbon.ch oder telefonisch 071 440 18 30.

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