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Es braucht nur eine Kerze im Dunkeln

Arbon und St. Gallen stehen sich nahe, nicht zuletzt durch das gemeinsame christliche Erbe. Das betont die St. Galler Stadtpräsidentin Maria Pappa. Sie erklärt, was es ihr bedeutet, erste Frau und erste Seconda in diesem Amt zu sein. Und sie verrät, was sie an Arbon beeindruckt und warum sie hier am Sonntag erstmals an einer Bettagsfeier spricht.

Andrea Vonlanthen

Was hat Sie als Tochter kalabrischer Einwanderer mehr geprägt: Kalabrien oder St. Gallen?

Maria Pappa: Ich bin hier geboren und aufgewachsen, insofern hat mich St. Gallen stärker geprägt. Kalabrien habe ich nur im Sommer in den Ferien erlebt.

Ende 2010 wurden Sie in St. Gallen eingebürgert. Wie gross war Ihr politisches Interesse damals?

Grundsätzlich hatte ich kein Interesse. Ich konnte ja nicht wählen oder abstimmen. Ich war aber immer eine engagierte Person und damals als Sozialpädagogin auch im Berufsverband Soziale Arbeit aktiv. Im Austausch mit den Studierenden habe ich immer auf die Bedeutung der Berufs- und Sozialpolitik hingewiesen. Deshalb habe ich mich dann entschieden, mich einbürgern zu lassen und mich selber mehr mit der Politik auseinanderzusetzen.

Schon 2013 sassen Sie dann für die SP im Stadtparlament, 2017 wurden Sie Stadträtin, 2021 Stadtpräsidentin. Ein steiler politischer Aufstieg!

Das war überhaupt nicht geplant. Ich wollte nur in einer Partei aktiv werden. Ich war mir nicht sicher, in welcher. Da 2012 gerade ein Wahljahr war, überzeugte mich ein SP-Mitglied, mich für die Frauen auf die Liste setzen zu lassen. Unerwartet wurde ich gleich gewählt. Ich hatte unterschätzt, dass ich recht bekannt war durch mein Engagement nicht nur im Berufsverband, sondern auch in der Jugendarbeit, im Seelsorgerat oder als Lektorin. Ich erhielt viele Panaschierstimmen. Im Parlament arbeitete ich von Anfang an mit viel Einsatz. Obwohl ich mich nach drei Jahren noch als Anfängerin sah, wurde ich von der Partei als Stadträtin empfohlen. Und ich wurde tatsächlich gewählt, obwohl kein Sitz frei war. Nach vier erfolgreichen Jahren als Baudirektorin gelang mir auch die Wahl als Stadtpräsidentin.

Was bedeutet es Ihnen, Stadtpräsidentin der grössten Ostschweizer Stadt zu sein?

Es ist für mich eine grosse Ehre, nicht nur unsere Stadt, sondern als grösste Stadt auch die Ostschweiz vertreten zu dürfen. Besonders bewegt mich, dass ich als erste Stadtpräsidentin für viele Mädchen und Frauen ein Vorbild sein darf. Gleichzeitig erfüllt es viele Migranten und Migrantinnen mit Stolz, dass ich als erste Seconda dieses Amt bekleiden darf. Viele Bekannte meiner Eltern haben mir gesagt, sie hätten nie gedacht, dass «eine von uns» einmal Stadtpräsidentin werden könnte.

Maria Pappa geniesst von ihrem Büro aus einen Ausblick über die St. Galler Altstadt.
Maria Pappa geniesst von ihrem Büro aus einen Ausblick über die St. Galler Altstadt.
© Andrea Vonlanthen

Sie bezeichnen sich auf Ihrer Homepage als «praktizierende Katholikin». Ihre wichtigsten Werte als Katholikin?

Nächstenliebe ist mein wichtigster Wert. Es geht um das liebevolle, wertschätzende Miteinander. Auch um das Zuhören, um zu erfahren, was die Menschen wirklich bewegt.

Der «Tages-Anzeiger» schreibt über Sie: «In der SP dürfte sie eine der ganz wenigen sein, die den Glauben so hingebungsvoll praktizieren.» Warum ist Ihnen der Glaube an Gott so wichtig?

Das hat sich immer mehr entwickelt. Ich war im Blauring und habe den Kindern etwas vorgelesen. Als mich der Pfarrer hörte, fragte er mich, ob ich nicht auch in der Kirche lesen wolle. Als junge Frau empfand ich die Kirche als eher langweilig. Doch ich sagte mir, ich probiere es mal aus, vielleicht ist es anders, wenn ich aktiv dabei bin. Tatsächlich habe ich durch mein Engagement einen anderen Zugang erhalten. Der Glaube schenkt mir ein Fundament und gleichzeitig Orientierung in meinem Alltag.

Ihre Partei spricht sich für eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche aus. Verstehen Sie diese Forderung?

Ich verstehe sie, vor allem wenn man die Kirche im historischen Rückblick betrachtet. Sie hat nicht nur eine rühmliche Vergangenheit. Gleichzeitig kenne ich viele SP-Mitglieder, die katholisch sind und sich zu den kirchlichen Werten bekennen. Werte wie Nächstenliebe, Solidarität und die Unterstützung der Schwächeren sind auch für die SP zentral. Einige in der Partei sind jedoch gegen eine Kirche, die Menschen bevormundet. Zugleich nehme ich wahr, dass sich die Kirche verändert hat – ihr heutiges Weltbild unterscheidet sich deutlich von früheren Zeiten. Nur gegenüber den Frauen hat sie noch immer ein veraltetes Bild.

Wie stellen Sie sich eine Kirche vor, die gerade jüngere Menschen anspricht?

Es ist eine Kirche, die zuhört und für alle Menschen da ist. Und eine Kirche, die Orientierung bietet mit den Werten des Evangeliums, aber nicht dogmatisch, sondern im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe.

Seit 30 Jahren sind Sie Lektorin in der Kathedrale. Was motiviert Sie nach wie vor dazu?

Ich kann beim Lesen in der Kirche eine Stunde innehalten. Ich frage mich, was mir der biblische Text sagt. Die Rituale während der Messen werden mir zur Quelle der Ruhe und der Kraft für eine neue Woche.

St. Gallen wäre ohne das christliche Erbe nicht St. Gallen.
Maria Pappa

St. Gallen und Arbon haben Gallus, dem irischen Wandermönch, viel zu verdanken. Was wäre St. Gallen ohne das christliche Erbe?

St. Gallen basiert auf Gallus und dem Kloster. St. Gallen wäre ohne das christliche Erbe nicht St. Gallen.

Was verbindet die beiden Städte heute vor allem?

Es ist der Bodensee, der die Gegend prägt und den Menschen Trinkwasser bietet. Die beiden Städte haben wirtschaftlich und auch bildungsmässig stark miteinander zu tun. Sie sind zwar in zwei Kantonen, doch nur schon räumlich stehen sie sich nahe.

Was beeindruckt Sie an Arbon?

Es ist ein charmantes Städtchen, das mir bestens vertraut ist. Kulturell wie wirtschaftlich hat es einiges zu bieten. Dem See entlang laden wunderschöne Wege zum Spazieren ein. Früher war ich dort oft mit den Inlineskates unterwegs.

Wie in Arbon hält sich offenbar auch in St. Gallen das Bild der serbelnden Altstadt hartnäckig in den Köpfen – leere Ladenlokale sind ein schlechtes Aushängeschild. Welche Strategie verfolgt Ihre Politik?

Dieses Problem kennen viele Städte, weltweit. Bei uns ist die lokale Standortförderung sehr aktiv. Sie hört sich um, vermittelt leere Lokale an Interessenten und zeigt konkrete Lösungen auf. Es ist wichtig, dass es im Erdgeschoss der Lokale eine öffentliche Nutzung gibt, auch mit ganz neuen Angeboten. Damit kann es gelingen, die Innenstadt zu beleben und Begegnungen zu ermöglichen.

Dass ich den Bettag diesmal in Arbon selbst mitgestalten darf, erachte ich als dankbare Aufgabe und spannende Herausforderung.
Maria Pappa

Die Verkehrsbelastung in Ihrer Stadt ist gross. Die vielen Staus auf der Stadtautobahn sind ärgerlich. Wird sich daran in den nächsten zehn Jahren etwas ändern?

In der Stadt selber haben wir selten Staus, dank der Autobahn. Bei der Autobahn sucht ja der Bund nach Lösungen, eventuell mit einer dritten Röhre. Bedenklich ist, wie stark der Verkehr auf der Autobahn zugenommen hat. Das Auto braucht viel Platz. Es gibt zu wenig Auto-Sharing. Auch ist auffällig, dass Staus auf der Autobahn meistens morgens oder abends mit dem Pendelverkehr entstehen. Könnten nur zehn Prozent der Fahrten in andere Zeiten verlagert werden, gäbe es keine Staus mehr. Sicher muss auch der öffentliche Verkehr weiter gestärkt werden.

St. Gallen leidet wieder unter einer offenen Drogenszene. Muss sie einfach akzeptiert werden?

Auch da gibt es leider eine weltweite Tendenz. In anderen Städten ist diese Szene noch grösser als in St. Gallen. Wir machen gute Erfahrungen durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachstellen – Polizei, Suchtfachstelle, Sozialarbeit. Sie suchen gemeinsam nach Lösungen. Bis jetzt funktioniert das gut. Wir sind dran am Thema und auch auf der Suche nach einem spezifischen Konsumraum, damit der Konsum dort kontrolliert möglich ist.

Sie selber waren ja früh Gruppenleiterin im Blauring. Was könnte unserer Jugend heute Halt und Sinn geben?

Gute Beziehungen. Das Miteinander positiv zu erleben. Wäre ich heute Jugendliche, wäre ich auch gefährdet durch das Handy und den Computer. Das Tolle im Blauring war, gemeinsam Erfahrungen zu machen und Neues zu lernen. Junge Menschen können das heute am ehesten in einer Gruppe erleben. Der Mensch ist doch ein soziales Wesen.

Am Bettag hören wir Sie an der Bettagsfeier in der St. Martinskirche in Arbon. Was motiviert Sie dazu?

Das ist eine ganz neue Aufgabe für mich. Es motiviert mich, zu überlegen, wie ich die Menschen gerade am Bettag persönlich ansprechen und bewegen kann. Dass ich den Bettag diesmal in Arbon selbst mitgestalten darf, erachte ich als dankbare Aufgabe und spannende Herausforderung.

Als erste Frau im Amt will Maria Pappa Mädchen und Frauen ein Vorbild sein.
Als erste Frau im Amt will Maria Pappa Mädchen und Frauen ein Vorbild sein.
© Andrea Vonlanthen

Von Luther stammt das Zitat: «Heute habe ich viel zu tun, deshalb muss ich viel beten.» Was bedeutet Ihnen das Beten im hektischen Alltag?

Beten heisst für mich im Alltag eigentlich, im Dialog mit Gott zu sein. Ich frage ihn: «Was soll ich nun machen, was denkst du? Wie soll ich mit dieser Person umgehen? Zeige mir bitte einen Weg in dieser schwierigen Frage.» Beten hat für mich auch viel mit Selbstreflexion zu tun, vielleicht auch deshalb, weil ich Sozialpädagogin bin.

Wie schaffen Sie es, trotz allem gelassen und zuversichtlich in die Zukunft zu schauen?

Ich bin nicht immer gelassen – hin und wieder spüre ich schon mein italienisches Temperament. Gleichzeitig habe ich eine optimistische Grundhaltung. Schon als Kind war ich überzeugt, dass die Liebe stärker ist als alles andere. Es klingt vielleicht ein wenig kitschig, doch für mich ist es eine tiefe Wahrheit: Eine einzige Kerze reicht, um die Dunkelheit zu vertreiben. Auch ich kenne schwere Zeiten, aber ich vertraue fest darauf, dass in jedem Menschen selbst in den dunkelsten Momenten ein Licht gegenwärtig ist.

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