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«Work-Life-Balance kannten wir nicht»

Doktor Bruno Haug ist seit 1996 als Hausarzt in Arbon tätig. 2012 gründete er mit Roman Buff das Medizinische Zentrum Arbon. Ende Jahr geht Haug in Pension. Mit «felix.» sprach er über die veränderten Erwartungen der Patienten, steigende Krankenkassenprämien und seine Pläne für die kommende sprechstundenfreie Zeit.

Kim Berenice Geser

Doktor Haug, Sie sind seit 27 Jahren Hausarzt in Arbon. Was hat sich in dieser Zeit Ihres Erachtens am meisten verändert?

Die Patientinnen und Patienten sind anspruchsvoller geworden. Heute wollen die Menschen eine Dienstleistung lieber gestern als heute. Vor allem, wenn sie sich unwohl fühlen. Mit Covid kam ausserdem eine gewisse Angst hinzu. Ich habe heute viel mehr Menschen, auch solche unter 30 Jahren, die einen Gesundheitscheck wollen. Das war früher kein Thema. Dadurch erhöht sich natürlich die Behandlungsintensität.

Vorsorge an sich ist eine gute Sache. Sind Sie der Ansicht, dass das Angebot zu ausufernd genutzt wird?

Die Menschen wollen heute Gewissheit über ihren Gesundheitszustand haben. Deshalb gibt es Dickdarmkrebs-Vorsorge, Mammografie, etc. Prävention hat einen grossen Stellenwert. Und das ist auch gut so. Aber Vorsorge bedeutet nicht nur, alle möglichen Krankheitsbilder mittels Untersuchungen auszuschliessen.

Sondern?

Vorsorge bedeutet vorzusorgen. Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Das heisst, einen gesunden Lebensstil zu pflegen. Genug zu schlafen, nicht zu rauchen und zu trinken, genügend Bewegung zu haben, sich gesund zu ernähren. Und das nicht erst, wenn Beschwerden auftauchen. Wir sollten dieses Wissen bereits im Kindesalter mit auf den Weg bekommen. Und ja, natürlich spielt die Genetik eine nicht zu unterschätzende Rolle.

2024 steigen die Krankenkassenprämien im Schnitt um 8,7 Prozent. Das ist so viel wie seit rund 10 Jahren nicht mehr. Grund dafür sind unter anderem mehr Arztbesuche sowie mehr und teurere Medikamente. Wie lässt sich dieser Prämienanstieg künftig in den Griff kriegen?

Ich weiss nicht, ob wir es wirklich in den Griff bekommen. Wir werden heute immer älter. Ergo steigt der Anspruch auf ausgedehnte Leistungen. Und das gilt, wie gesagt, auch für alle übrigen Altersgruppen. Die Patientinnen und Patienten wollen heute schlicht mehr. Und ja, auch wir Mediziner sind nicht unschuldig an dieser Entwicklung, haben sie vielleicht sogar dahin getrieben. Aber der Wertewandel, der stattgefunden hat, lässt sich nicht mehr umkehren.

«Unser Gesundheitssystem sollte für alle zugänglich sein.»
Bruno Haug

Was meinen Sie mit «dahin getrieben»?

Nehmen wir zum Beispiel einen Infekt. Dieser dauert in der Regel nun einmal ein bis zwei Wochen. Da brauche ich kein Blutbild zur Abklärung, solange jemand kein Fieber hat. Doch wo man früher einfach Bettruhe angeordnet hat, werden heute Tests gemacht. Wir praktizieren inzwischen eine Sicherheitsmedizin. Lieber eine Abklärung zu viel als eine zu wenig. Bis zu einem gewissen Grad kann ich das auch verstehen. Denn wenn wir wirklich einmal etwas übersehen, ist der Sturm der Entrüstung vorprogrammiert.

Derselbe Wertewandel wie in den Schulen also: Früher war ich selbst schuld an meinen schlechten Noten, heute ist es der Lehrer ...

Genau so ist es. Wobei ich nicht glaube, dass man beim Prämienanstieg wirklich jemandem die Schuld zuweisen kann. Wer soll den schuld sein? Die Mediziner? Die Patienten? Die Politiker? Wir alle tragen die Verantwortung und das wird auch in 20 Jahren noch so sein. Fakt ist, wir haben eine gute Gesundheit und ein gutes Gesundheitssystem und das kostet etwas.

Dennoch setzen die steigenden Gesundheitskosten einem Grossteil der Bevölkerung zu. Was halten Sie von Lösungsvorschlägen, wie dem Belohnen eines gesunden Lebensstils oder der Herauslösung gewisser Leistungen aus der Grundversorgung?

Nicht viel. Das würde eine Zwei-Klassen-Versorgung schaffen. Leistungen aus der Grundversorgung zu nehmen, ist ein heikles Unterfangen. Denn diejenigen, die dann auf diese Leistungen angewiesen sind, sind am Schluss die Leidtragenden. Ich halte es auch nicht für richtig, Raucher abzustrafen. Unser Gesundheitssystem sollte für alle zugänglich sein. Darauf sind wir ja auch stolz.

Der Einsatz künstlicher Intelligenz könnte auch zu einer Kostenreduktion beitragen.

Ich denke, beim administrativen Aufwand könnte dies durchaus Vorteile mit sich bringen.

Bruno Haug würde nicht mehr alleine praktizieren wollen.
Bruno Haug würde nicht mehr alleine praktizieren wollen.
© Laura Gansner

Nicht auch im diagnostischen Bereich? Die Datenmengen, die eine KI verarbeiten und analysieren kann, ist um ein x-faches grösser, als dies ein Arzt könnte.

Das mag sein. Ich glaube aber nicht, dass die KI den Hausarzt wird ersetzen können. Medizin – vor allem im Bereich der Hausärzte – ist nicht nur das Stellen einer Diagnose, sondern vor allem die Empathie von Mensch zu Mensch. Ich hoffe, diese wird auch in Zukunft notwendig sein.

Apropos Zukunft: Sie haben eine Nachfolgerin gefunden.

Ja, Doktor Anja Gajewski. Sie hat davor eine Praxis in Davos geführt. Seit Ende September ist sie in Arbon, damit wir noch eine gewisse Einarbeitungszeit zu zweit haben.

Die hausärztliche Grundversorgung ist im Kanton Thurgau, wie in anderen ländlichen Gegenden auch, gefährdet. Es fehlen schlicht die Ärztinnen und Ärzte. Wie sieht es bei Ihnen aus: Hatten Sie Mühe bei der Suche?

Ja, es war kein einfaches Unterfangen. Aber wen wunderts.

Sie offensichtlich nicht.

Als ich 1996 meine Praxis in Arbon übernahm, war das noch unter der alten Garde. Wir haben alle viel gearbeitet. Von einer Work-Life-Balance war damals nie die Rede. So etwas hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt.

Wie war Ihr Alltag davor?

Davor waren 60 bis 70 Stunden Wochen durchaus normal. Du warst einfach da, von morgens bis abends. Und als Hausarzt warst du sogar nachts erreichbar. Ich weiss noch, ich gehörte zu den ersten mit einem Natel. Damals noch ein richtiges Ungetüm. (lacht) Ich bin froh, ist mein Berufsalltag heute nicht mehr so. Damals gab es Dienste über 24 bis 48 Stunden. Für die Familie war das natürlich ganz schlecht, aber so war es einfach. Der Arbeitsaufwand hat sich seit damals jedoch nicht verringert. Das bedeutet, für die gleiche Arbeit, wie wir sie damals alleine geleistet haben, braucht es heute mindestens zwei Personen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass heute auch viele Ärztinnen und Ärzte Teilzeit arbeiten wollen und die Administration massiv zugenommen hat.

«Gemeinschaftspraxen sind die Zukunft.»
BRUNO HAUG

Mit dem Curriculum Hausarztmedizin will der Kanton Thurgau dem Hausärztemangel entgegenwirken (siehe Kasten).

Das ist eine gute Sache und ich hoffe, dass es gelingt, junge Hausärztinnen und Hausärzte nachzuziehen. Es ist jedoch ein Tropfen auf den heissen Stein und kommt zehn Jahre zu spät.

Können Sie diesen Vorwurf begründen?

Laut dem Bundesamt für Statistik war jeder vierte Arzt, jede vierte Ärztin in der Schweiz Ende 2021 mindestens 60 Jahre alt. Allein für den Kanton Thurgau bedeutet das, dass es in den kommenden fünf bis sieben Jahren rund 50 neue Hausärztinnen und –ärzte braucht. Und dabei reden wir wohlgemerkt von 100 Prozent-Stellen. Wie eben erwähnt, gehen die Bedürfnisse hier in eine andere Richtung. Es braucht folglich also noch mehr Stellen. Mit dem Curriculum werden jährlich aber nur vier Personen ausgebildet. Sie sehen, die Rechnung geht nicht auf. Aber dennoch ist es besser, als nichts zu tun.

Sie haben 2012 mit Roman Buff das Medizinische Zentrum gegründet. Dass sich die Arbeit fortan auf mehrere Schultern verteilte, war für Sie eine grosse Entlastung. Wird es den Arzt mit der Einzelpraxis künftig gar nicht mehr geben?

Gemeinschaftspraxen sind die Zukunft. Allein schon aus Ressourcengründen, wie dem Personal, der Administration aber auch den Räumlichkeiten. Ich würde sogar die Weiterentwicklung zu ambulanten Zentren anstreben, in der Grundversorger, Fachärzte und weitere Dienstleister wie Physiotherapeuten unter einem Dach vereint sind. Das würde beispielsweise kürzere Wege beinhalten und Überweisungen erleichtern.

2014 machte Bruno Haug zusammen mit seiner Frau eine Velotour ans Nordkap. Nach der Pensionierung liebäugelt er mit einer ähnlich ausgedehnten Tour.
2014 machte Bruno Haug zusammen mit seiner Frau eine Velotour ans Nordkap. Nach der Pensionierung liebäugelt er mit einer ähnlich ausgedehnten Tour.
© Laura Gansner

Wir haben jetzt viel über die Herausforderungen Ihres Berufs gesprochen. Warum haben Sie ihn dennoch so lange ausgeübt?

(schmunzelt) Weil ich Freude daran habe. Der Hausarzt-Beruf ist einer der spannensten Berufe, die es gibt. Man muss ein breites medizinisches Wissen haben, entscheidungsfreudig sein und Verantwortung übernehmen. Ich weiss an keinem Tag, was heute bei mir in der Praxis passiert. Vom Schnupfen über den Bruch bis hin zur schweren Krankheit ist alles mit dabei. Das macht es so abwechslungsreich. Und die Hausarztmedizin hat noch eine Komponente, die keine der anderen Fachrichtungen so ausgeprägt hat.

Welche ist das?

Man muss sich auf Menschen einlassen können. Das lernt man nicht im Studium, sondern erst im Alltag mit der Erfahrung. Manchmal denke ich, es ist eigentlich schade, dass ich jetzt nach so vielen Jahren, in denen ich praktizieren durfte, aufhöre. Aber ich freue mich auch auf das, was danach kommt.

Was kommt denn danach?

Ich habe auf die Pensionierung hin das Fischerpatent gemacht. Dieses Jahr war ich aber nur einmal im Tirol angeln. Es wird schön, mehr Zeit dafür zu haben. Und ich würde gerne mal wieder ein Buch lesen ohne schlechtes Gewissen, weil ich eigentlich etwas anderes machen sollte. Ausserdem haben meine Frau und ich angedacht, eine ausgedehnte Velotour wie damals 2014 ans Nordkap zu machen. Fix geplant ist aber noch nichts. Ich will erst in diesem neuen Lebensabschnitt ankommen.

Kanton finanziert Curriculum Hausarztmedizin

Der Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten ist längst auch im Kanton Thurgau zu spüren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil das Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist. Eine gravierende Entwicklung, leisten diese doch einen zentralen Beitrag an die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Wie eine Untersuchung des Institutes für Hausarztmedizin Zürich ergab, können in Hausarztpraxen 94,3 Prozent aller Gesundheitsprobleme behandelt werden. Um dem Ärztemangel entgegen zu wirken, führt der Kanton Thurgau ab 2024 ein Curriculum Hausarztmedizin ein, das von der Spital Thurgau AG in Koordination mit der Ärztegesellschaft Thurgau organisiert wird. Das Angebot soll Studienabgängerinnen und Studienabgänger nach dem Medizinstudium für die Hausarztmedizin gewinnen. Die Spital Thurgau AG trägt die Kosten des ersten Teils der Fachausbildung am Spital. Der zweite Teil der Fachausbildung in einer Hausarztpraxis wird vom Kanton mit jährlich 551 000 Franken mitfinanziert, wobei die Hausarztpraxen einen Beitrag von 96 000 Franken leisten. Über das Curriculum Hausarztmedizin sollen jährlich vier Hausärztinnen und Hausärzte ausgebildet werden.

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