100 Kerzen auf dem Kuchen
Laura Gansner«Ich wünsche ihnen ein wunderschönes Geburtstagsfest.» Mit diesen Worten verabschiedet sich Berty Geugel von Alice Guadagnini, ihre Hand legt sie dabei behutsam auf deren Arm, Guadagnini erwiedert die Geste. Wer einen Blick auf diesen nur wenige Sekunden andauernden Moment erhascht, der könnte meinen, die beiden Frauen kennen sich schon ewig. Doch ewig ist in diesem Fall knapp eine Stunde lang. Was sie zusammengebracht hat? Ihr 100. Geburtstag. Während Berty Geugel diesen heute am 10. März feiert, erreicht Alice Guadagnini den Jahrhundert-Marker am 23. März. «Zwei März-Kinder unter sich», bemerkt Geugel erfreut. Guadagnini wirft ihr einen verschwörerischen Blick zu. Diese erste Gemeinsamkeit soll nicht die letzte bleiben.
Zwei Lebensgeschichten
Aufgewachsen sind die beiden Frauen jedoch anders – örtlich gesehen jedenfalls. Während Alice Guadagnini in Tübach gross wird, verbringt Berty Geugel ihre Kindheit im kleinen Örtchen Busswil im Berner Langenthal. «Hierhin hat mich aber nicht die Liebe gebracht», stellt sie gleich zu Beginn klar. Also, nicht direkt jedenfalls. Gemeinsam mit ihrem Mann, den sie im Landdienst kennenlernte, hat es sie des Geschäfts wegen in die Ostschweiz verschlagen. Sie landeten in Egnach, wo sie gemeinsam jahrelang die Seelust führten. «Schon als kleines Mädchen habe ich mir eine Schürze umgebunden und verkündet, dass ich Wirtin werden will», erzählt Geugel mit einem Strahlen in den Augen.
Während sie sich diesen Traum erfüllte, schlug nur unweit von ihr Alice Guadagnini einen anderen Weg ein. Nach ihrer Lehre zur Schneiderin in St. Gallen, begann sie als solche in Stachen zu arbeiten. Auch sie hatte in der Zwischenzeit ihren Mann kennengelernt, der als italienischer Gastarbeiter auf dem Hof ihrer Eltern arbeitete. Nach deren Hochzeit brachte Guadagnini sechs Kinder auf die Welt. Heute hat sie zusätzlich zehn Enkel und acht Urenkel. Überraschenderweise kommt sie auf diese zu sprechen, während sie vom Sterben spricht. «Ich habe mich stets gut um meine Kinder gekümmert», berichtet sie. Unüberhörbar schwingt Stolz in ihrer Stimme mit. Sie mache sich deshalb keine Sorgen um den Tod, der gehöre ausserdem einfach dazu. Geugel pflichtet ihr bei: «Man sollte keine Angst davor haben». Sie selbst hat zwar keine Kinder, aber viele Katzenleben, in die sie als Mitglied des Vereins «Katzenfreunde Arbon» investierte. «Ich habe mein Leben lang so viel Gutes getan für diese Tiere, da mach ich mir gar keine Sorgen um das, was nach dem Tod kommt.»
Trotz Weltschmerz noch Hoffnung
Sterben ist auch in Hinblick auf das aktuelle Weltgeschehen ein Thema zwischen den beiden Frauen. Sie, die in die Nachkriegszeit des ersten Weltkriegs hineingeboren wurden, während dem zweiten Weltkrieg gross wurden und den Kalten Krieg erlebten, trifft der aktuelle Krieg in der Ukraine sehr. «Ich darf den Fernseher gar nicht mehr einschalten, so sehr schmerzt mich die Welt», erzählt Geugel mit belegter Stimme. Guadagnini nickt bedächtig und fügt hinzu: «Die Menschheit lerne einfach nicht dazu». Ihrer Meinung nach sei dies keine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens. Doch ganz so hoffnungslos ist sie nicht, wie sich in Bezug auf ihre Wünsche für die kommenden Generationen herausstellt. «Sie können von uns eine Portion Geduld lernen», meint Guadagnini. Und sich auf das Wichtigste fokussieren, fügt Geugel hinzu. Bei der Frage, was das Wichtigste für die beiden ist, müssen sie nicht lange überlegen: «Gesundheit», meint Guadagnini und Geugel lächelt: «Das wollte ich gerade auch sagen». Dieselbe Antwort geben sie auch auf die Frage, was sie sich denn zum 100. Geburtstag wünschen. Geugel zwinkert Guadagnini zu und fügt an: «Und dass wir noch ein wenig hierbleiben dürfen».