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«All das Böse hat nicht das letzte Wort»

Die Berichte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche machen auch Tobias und Simone Zierof sprachlos und betroffen. Seit 2019 in der Leitung der Pfarrei St. Martin, dienen sie ihrer Kirche trotzdem noch mit Freude. Sie betonen, in der katholischen Kirche bewege sich manches.

Andrea Vonlanthen

Welches war mit zwölf Jahren Ihr Traumberuf?

Simone Zierof: Ich wollte Dachdeckerin werden.

Tobias Zierof: Ich hatte nie einen Traumberuf.

Warum sind Sie ausgerechnet in der katholischen Kirche gelandet?

Sie: Ich bin in dieser Kirche gross geworden und habe da oft meine Freizeit verbracht. Hier habe ich Menschen kennengelernt, die Pastoralreferenten waren. Ich kam zum Schluss, dass ich das auch machen möchte.

Er: Ich war auch in einer Pfarrei beheimatet. Dazu kam die familiäre Prägung. In der elften Klasse wollte ich Latein- und Geschichtslehrer werden. Wegen einer ungünstigen Lehrerkonstellation war das jedoch kein Thema mehr. Darauf war mir bald klar: Ich möchte Laientheologe werden und Theologie studieren. Das war für mich ein persönliches Berufungserlebnis.

Warum macht es immer noch Freude, im Dienst dieser Kirche zu stehen?

Er: Weil der Glaube etwas Schönes ist. Weil mich der Glaube prägt und trägt. Ich versuche, in dieser Kirche meinen Beitrag zu leisten, so dass Menschen den Glauben entdecken können.

Sie: Es ist die Liebe zu Gott, die ich in der Kirche erleben kann. Und es ist schön, zusammen mit anderen Menschen, die auch auf dem Weg mit Gott sind, unterwegs zu sein.

«Jeder Fall ist einer zu viel.»
Tobias Zierof

Was lösen all die Berichte zur aktuellen Studie über sexuellen Missbrauch in Ihrer Kirche bei Ihnen aus?

Sie: Das ist entsetzlich! Es löst bei mir grosses Unverständnis und Ekel aus.

Er: Ich bin betroffen und sprachlos. Ich empfinde grosses Mitgefühl mit den betroffenen Menschen. Ich bin sehr dankbar, dass die Bischofskonferenz den Auftrag zu dieser Studie erteilt hat. Und ich bin froh, dass die Studie auch aufgezeigt hat, dass die schon vorher angestossenen Präventionsmassnahmen Wirkung zeigen. Die Zahlen zum Missbrauch sind in den letzten 20 Jahren deutlich gesunken. Aber klar ist: Jeder Fall ist einer zu viel.

Gemäss Umfrage der katholischen Landeskirche Thurgau mussten Sie in Arbon bis Ende Oktober 80 Austritte verzeichnen. Wie viele sind inzwischen dazugekommen?

Er: Nicht sehr viele. Normalerweise haben wir jeden Monat zehn bis zwölf Austritte. Es gab nach der Veröffentlichung der Studie eine deutliche Häufung, doch seither hat es sich wieder im normalen Rahmen eingependelt.

Wie oft wurden Austritte mit dem sexuellen Missbrauch begründet?

Sie: In den wenigsten Fällen gab es eine Begründung. Wenn, dann wurde meist der Missbrauch genannt. Man wolle deswegen nicht mehr Teil dieser Kirche sein.

Er: Die Einordnung ist schwierig, da meistens vorgefertigte Formulare verwendet wurden, in denen klar steht, dass die Austrittswilligen keine Gründe nennen möchten und dass sie auch nicht von uns kontaktiert werden wollen. In unseren Antwortschreiben haben wir jedoch immer unsere Gesprächsbereitschaft signalisiert.

Auch sie zweifeln ab und an, dennoch bleibt Kirche für Simone und Tobias Zierof Hoffnung.
Auch sie zweifeln ab und an, dennoch bleibt Kirche für Simone und Tobias Zierof Hoffnung.
© Kim Berenice Geser

Wie viele Eintritte konnten Sie anderseits in diesem Jahr verzeichnen?

Sie: Zuwachs hatten wir schon durch mehr als 25 Taufen und auch durch drei, vier Erwachsene, die ganz bewusst wieder in die Kirche eingetreten sind.

Er: Das gab es noch nie, seit wir in Arbon sind, dass doch ein paar erwachsene Personen wieder in die Kirche eingetreten sind. Was wir nicht aufschlüsseln können, sind Katholiken, die nach Arbon umgezogen sind und neu zu unserer Pfarrei gehören. Unsere Mitgliederzahl nimmt jedenfalls nicht ab. Insgesamt zählt unsere Pfarrei etwa 5300 Mitglieder. Diese Zahl ist stabil.

Wo müsste Ihre Kirche ansetzen, um aus der Krise zu finden?

Er: Ich denke, die katholische Kirche erlebt mehrere Krisen. Das eine Thema ist ganz klar die Frage nach den Missbräuchen und des Machtmissbrauchs durch den Klerikalismus. Daran arbeitet die Kirche intensiv. Das haben wir auch gesehen an der Bischofskonferenz in Rom. Die Kirche ist bereit, die Probleme sorgfältig aufzuarbeiten und sich selbst zu reformieren. Die andere Krise liegt in der Frage, inwieweit der Glaube überhaupt noch relevant ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung bezeichnet sich als atheistisch oder konfessionslos. Dadurch verliert die Kirche als Ort des Glaubens und der Spiritualität enorm an Bedeutung. So lange das Bedürfnis nach gelebtem Glauben und nach Wachstum in einer Glaubensgemeinschaft nicht zurückkommt, wird die Kirche nicht aus der Krise herausfinden.

Der Berner Pfarrer und Richter Nicolas Betticher sprach sich in einem Interview für ein Partikularrecht aus. Ein Expertengremium sollte sich Missbrauchsfällen annehmen. Ein tauglicher Vorschlag?

Er: Mit dem Vorschlag eines solchen Partikularrechts ist Bischof Felix Gmür als Vorsitzender der Schweizer Bischofskonferenz beim Papst vorstellig geworden. Er bekam für dieses Vorhaben grünes Licht. Zudem arbeitet das Bistum Basel schon länger mit unabhängigen Ansprech- und Beratungspersonen. Die Kontakte bei vermutetem Missbrauch laufen über externe Stellen, wie die Opferhilfe. Zudem muss der Verdacht eines sexuellen Übergriffs an die unabhängige Koordinationsperson des Bistums gemeldet werden. Handelt es sich um den Vorwurf eines mutmasslichen Missbrauchs, muss Strafanzeige eingereicht werden.

«Die Kirche muss sichtbar, spürbar und erfahrbar machen, dass Gott da ist.»
TOBIAS ZIEROF

Was sollte sich in Ihrer Kirche sonst bewegen, um neues Vertrauen zu schaffen?

Sie: Im Blick auf den Missbrauch bewegt sich viel, bis ins Kleinste. Jetzt geht es auch um die wichtige Frage, was die Kirche in Zukunft sein will. Geht es nur darum, dass die katholische Kirche als Institution ein besseres Image bekommt, dann ist das nicht zukunftsfähig. Es geht um die «inneren Werte», die wir als Kirche vor Ort miteinander klären müssen, aber auch im grösseren Kontext.

Wo sehen Sie den zentralen Auftrag Ihrer Kirche?

Sie: Die Kirche muss die frohe Botschaft des Evangeliums verkündigen und leben. Alles andere ergibt sich daraus.

Er: Die Kirche muss sichtbar, spürbar und erfahrbar machen, dass Gott da ist.

Über 5000 Mitglieder halten Ihrer Pfarrei die Treue. Wovon profitieren sie am meisten?

Sie: Sie haben einen Ort, wo Fragen nach dem Glauben und Fragen des Lebens Platz haben. Sie haben einen Ort, an dem es mehr gibt als die Antworten der heutigen Zeit. Der Glaube gibt Sinn. Es ist eine Gemeinschaft, die trägt und in der man auch in Krisen neuen Mut und neue Hoffnung finden kann. In dieser Gemeinschaft profitieren alle vom Gebot Jesu: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.»

Was sagen Sie jungen Menschen von 16 Jahren, warum sie in der Kirche bleiben sollen?

Er: Solche Gespräche führe ich fast nie. Wir versuchen mit unserer Arbeit, gute Erfahrungen zu ermöglichen mit der Kirche, mit gläubigen Menschen und hoffentlich auch mit Gott selbst. All das soll die Lust oder auch die Sehnsucht wecken, sich selbst mit dem eigenen Glauben zu beschäftigen. Im Firmkurs scheint das zu klappen. Es gibt einige Jugendliche, die nach der Firmung dranbleiben an ihrem Glauben, die auch Aufgaben übernehmen und selbst zu Firmleitern werden. Aber glauben zu können, bleibt immer ein Geschenk – es ist Gnade. Als Kirche können wir nur den Boden bereiten.

Sie: Es kann nicht um eine Engführung gehen, dass man sonntags in den Gottesdienst gehen soll. Natürlich ist das wichtig, aber das funktioniert nicht mehr. Was wir unseren Kindern und Jugendlichen mitgeben sollten, das ist unser Fundament. Sie sollen wissen und erleben, dass es einen Ort gibt, an den sie jederzeit kommen können. Es gibt eine Gemeinschaft und einen Glauben an einen Gott, der jeden Menschen bedingungslos liebt.

«Es löst bei mir grosses Unverständnis und Ekel aus.» – Simone Zierof über die Ergebnisse der Studie zu sexuellen Missbräuchen in der katholischen Kirche.
«Es löst bei mir grosses Unverständnis und Ekel aus.» – Simone Zierof über die Ergebnisse der Studie zu sexuellen Missbräuchen in der katholischen Kirche.
© Kim Berenice Geser

Wie wirkte sich die Krise der Kirche auf Ihren Glauben aus?

Sie: Eine Glaubenskrise, was meine persönliche Beziehung zu Gott betrifft, hatte ich nie. Gott ist nicht für die Misere verantwortlich. Das sind wir Menschen. Da bin ich immer wieder enttäuscht.

Doch gab es Zweifel gegenüber Ihrer Kirche?

Sie: Ich denke, das darf man immer haben. Es wäre nicht ehrlich, wenn ich mich nicht gefragt hätte, wie das alles in unserer Kirche passieren konnte. Ich verstehe auch, wenn jemand sagt, dieser Institution kann ich nicht mehr vertrauen. Doch gleich das Aber: Mir geht es in erster Linie um die Kirche vor Ort hier in Arbon. Diese Kirche können wir gestalten. Und ich möchte versuchen, das gut zu machen.

Er: Kirche sind wir alle, so sagt es auch das zweite Vatikanum. Jedes Mitglied hat es in der Hand, Kirche so zu gestalten, dass sie das widerspiegelt, was uns Gott aufgetragen hat. Und dass sie als Ort wahrgenommen wird, wo die frohe Botschaft gelebt wird.

Ihre Kirche wird jetzt an Weihnachten wieder voll sein. Warum eigentlich?

Sie: Weihnachten ist eine schöne Tradition. Der Gottesdienst an Weihnachten und an Ostern gehört für viele Menschen dazu. Doch Weihnachten ist auch ein berührendes Ereignis. Es ist nicht einfach eine kitschige Geschichte. Gott kommt selber in seinem Sohn in die Dunkelheit der Welt hinein. Er kommt in unser Leid, unsere Not hinein.

«Es ist ein Versprechen, das allen gilt, egal ob im Kriegsgebiet, im Altersheim, im Krankenbett oder in das eigene Leid hinein: Gott ist da.»
Simone Zierof

Was müsste geschehen, damit volle Kirchen keine derartige Seltenheit bleiben?

Sie: Ich glaube, es beginnt mit der Sehnsucht des Einzelnen nach Gott und dem Versuch oder Entschluss, mit ihm zu leben. Danach stellt sich die Frage nach der Gemeinschaft und der Form des Gottesdienstes.

Er: Wer an Weihnachten in die Kirche kommt, sollte sich die Frage stellen, was Weihnachten als Fest des Glaubens für ihn oder sie bedeutet. Wenn es eine Bedeutung für das persönliche Leben hat, dann wachsen daraus die Freude und die Begeisterung, diesem Gott zu begegnen – ganz individuell, aber auch in der Gemeinschaft der Kirche.

Warum macht Ihnen Weihnachten gerade heute auch Hoffnung?

Er: Mit Weihnachten beginnt das Wirken Gottes in dieser Welt. Leid gehört zum menschlichen Leben. Doch Gott will uns hindurchtragen. Und er verspricht uns, dass all das Böse nicht das letzte Wort haben wird.

Sie: Ich sage gerne meinen Lieblingsspruch zu Weihnachten: «Wäre Jesus tausend Mal in Bethlehem geboren, aber nicht in dir, so wäre es vergebens.» Es geht an Weihnachten um jeden ganz persönlich. Es ist ein Versprechen, das allen gilt, egal ob im Kriegsgebiet, im Altersheim, im Krankenbett oder in das eigene Leid hinein: Gott ist da.

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