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«Das ist meine Weltsicht»

Das blutige Ohr von Donald Trump am 13. Juli 2024 war für Ruedi Bollag eine Inspiration. Der ehemalige Jurist schrieb seine erste Erzählung. Diese nimmt nicht nur Trumps Rhetorik aufs Korn, sondern beleuchtet auch die Angst des Autors vor dem Zerfall des Staates.

Ruedi Bollag, Sie sind pensionierter Anwalt – was hat Sie motiviert, nach Ihrer juristischen Laufbahn ein Buch zu schreiben?

Der mündliche und schriftliche Ausdruck hat mich immer schon beschäftigt. Als ich aufgehört habe, als Anwalt zu arbeiten, habe ich mir deshalb unter anderem überlegt, eine Schreibstube zu eröffnen.

Stattdessen haben Sie sich für das Verfassen einer politischen und gesellschaftskritischen Erzählung entschieden. Warum?

Ich beobachte mit grosser Sorge, wie wir immer mehr und mehr dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen gehen.

Woran machen Sie das fest?

An den generell herrschenden Tendenzen, den Staat zu schwächen, ihm die Mittel zu entziehen, ihn zu privatisieren. Berlusconi nannte den Staat ein Krebsgeschwür, das es abzuschaffen gilt. In der Schweiz sind wir zum Glück noch in einer privilegierten Position – aber auch hier herrschen Tendenzen zum Abbau. Es gibt unzählige Beispiele. Mir macht es Angst, wenn beispielsweise das «Staatsfernsehen» geschwächt, von gewissen Kreisen am liebsten gar abgeschafft werden soll.

Was sollte der Staat für Sie denn sein?

Der Staat sollte einerseits die Sicherheit und den Rahmen bieten, damit wir darin alle individuell die grösstmögliche Freiheit geniessen können. Genauso wichtig ist aber, dass der Staat ausgleicht, also die Plattform ist, die für soziale Gerechtigkeit und soziales Gleichgewicht sorgt.

«Heute wird nicht versucht, privilegierte Kreise etwas mehr zur Kasse zu bitten, sondern den Staat zu schwächen.»
Ruedi Bollag

Ein Spagat, der nicht immer gelingt. Wie die Budget-Abstimmung in Arbon jüngst gezeigt hat.

Eine Katastrophe diese Abstimmung! Aber die Haltung passt genau zu dem, was ich eben sagte: Der Staat wird geschwächt, der Private soll es richten – auch wenn vielleicht viele sozial benachteiligte Eltern den FerienSpass für ihre Kinder nicht finanzieren können. In der ganzen westlichen Welt, in jedem Land, sind die privaten Vermögen in den letzten 60 Jahren deutlich gestiegen, die Staatsverschuldung hat gleichzeitig überall massiv zugenommen. Heute wird nicht versucht, privilegierte Kreise – ich gehöre auch dazu! – etwas mehr zur Kasse zu bitten, sondern den Staat zu schwächen. Das ist gesellschaftspolitisch höchst gefährlich.

Sie sind Zeit Ihres Lebens politisch interessiert. Und offensichtlich beschäftigt Sie auch das Geschehen vor Ihrer Haustür. Warum haben Sie sich in Ihrem Roman dennoch so stark auf die USA konzentriert?

Ausschlaggebend hierfür war das Attentat auf Donald Trump im Juli 2024. Als ich davon gehört habe, fand ich das ein so schräges Ereignis, dass ich beschloss, eine satirische Kurzgeschichte darüber zu schreiben. Die gefiel mir so gut, dass ich Lust auf eine Fortsetzung bekam. Beim Weiterschreiben realisierte ich, dass Trump DER Exponent für den Staatsabbau ist. Mit seiner Macht ist er die Lokomotive einer Entwicklung, die Drehscheibe einer rechtsnationalen Entwicklung weltweit. Und diese Macht wurde ab dem 13. Juli 2024 deutlich sichtbar.

Sie verweben in Ihrer Erzählung bewusst Fiktion und Realität so, dass sie schwer zu trennen sind. Das Attentat ist bei Ihnen eine Inszenierung. Ist das auch Ihre persönliche Meinung?

Nein, ich hatte nie Zweifel an der Echtheit. Das Attentat auf Trump ist mit nichts zu rechtfertigen.

Bollags Erzählung «Am Anfang war das Ohr» dreht sich um die Ereignisse rund ums Attentat auf Donald Trump. Dabei vermischt der Autor Realität und Fiktion teilweise so stark, dass die Grenzen nicht mehr erkennbar sind.
Bollags Erzählung «Am Anfang war das Ohr» dreht sich um die Ereignisse rund ums Attentat auf Donald Trump. Dabei vermischt der Autor Realität und Fiktion teilweise so stark, dass die Grenzen nicht mehr erkennbar sind.
© Kim Berenice Geser

Trump wird von Ihnen als gefährliche, fast dämonische Figur porträtiert. Damit bedienen Sie sich in Ihrer Darstellung von ihm derselben Rhetorik, die er im Umgang mit seinen Gegnern anwendet. Warum begeben Sie sich in dasselbe Fahrwasser, statt andere Ausdrucksformen zu suchen?

Ich bediene mich bewusst der Trump-Rhetorik. Weil er immer alles umdreht, dreht hier auch der Satiriker alles um.

Aber was bezwecken Sie mit diesem Narrativ?

Ich will der Gesellschaft damit einen Spiegel hinhalten. Alle Örtlichkeiten, jeder Glacestand sind akribisch recherchiert. Gleichzeitig versuche ich Wahrheit und Fantasie so miteinander zu verbinden, dass man am Ende nicht mehr weiss, was nun stimmt und was nicht. Ebenso, wie es uns mit Trump ergeht. Bei ihm gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen Fiktion und Realität, nur noch zielgerichtete Information. In dem ich mich dieser Form des Erzählens bediene, lege ich auch die Basis für die Hauptfigur Jeff, sein destruktives Denken zu verlassen. Denn indem Jeff mehr und mehr beginnt, diese Geisteshaltung zu hinterfragen, schafft er es aus dem Schwarz-Weiss-Denken heraus.

Dabei ist Jeff selbst plakativ angelegt. Er ist anfänglich «ein typischer Trump-Anhänger»: wuchs in schwierigen Verhältnissen auf, ist arbeitslos, trinkt und hat eine Wut aufs «Establishment». Verkennen Sie damit nicht die Komplexität der Trumpschen Wählerschaft?

Es stimmt, Jeff ist einfach angelegt. Im Buch kommt die komplexe Wählerschaft Trumps aber durchaus vor. Das war mir enorm wichtig. Mit Jeff und den Klischees, denen sich seine Figur teilweise bedient, wollte ich zeigen, dass jeder die Chance hat, aus indoktrinierten Denkstrukturen auszubrechen. Unabhängig seiner Herkunft oder seines Werdegangs.

Der Arboner Ruedi Bollag blickt sorgenvoll auf die Entwicklung der Gemeinschaft weltweit.
Der Arboner Ruedi Bollag blickt sorgenvoll auf die Entwicklung der Gemeinschaft weltweit.
© Kim Berenice Geser

Jeff bricht dann auch aus und wandelt sich vom Anhänger zum Gegner. Ein Lernprozess nach Drehbuch, wenn man so will – und erst noch ein rasend schneller.

Das ist natürlich absolut unrealistisch (schmunzelt). Ein solch ideologischer Wandel ist in so kurzer Zeit gar nicht möglich. Mir ging es aber auch nicht um eine psychoanalytische Studie von Jeff. Für mich ist er viel mehr ein Fremdenführer, der die Leserschaft durch das Trumpsche Denken führt.

Ihr Buch will – Ihren Angaben zufolge – mehr sein als Unterhaltung und zeitgeschichtliches Dokument.   

Richtig. Es ist in erster Linie eine Mahnung angesichts der drohenden Demontage des Staates, der Demokratie und der Freiheit – weltweit.

«Wir sollten unseren Kindern von klein auf beibringen, welche Aufgaben ein Staat hat und welchen Wert Solidarität und Gemeinschaft haben.»
Ruedi Bollag

Sie gehen sogar so weit, die Entwicklung im aktuellen Weltgeschehen einen «Ausverkauf des Staates» und die «Zerschlagung des Gemeinsamen» zu nennen. Eine düstere Diagnose. Überzeichnen Sie bewusst, um zu warnen?

Das ist meine Weltsicht, auf das, was jetzt passiert. Die aktuelle US-Regierung ist stark geprägt vom Philosophen Curtis Guy Yarvin. Er kommt ursprünglich aus der Software-Entwicklung. Heute ist er aber vor allem bekannt als der liberale Philosoph, der den Staat abbauen will. Zu diesen Kreisen gehören unter anderem auch JD Vance, Elon Musk und Peter Thiel. Und was momentan in den USA passiert, macht vor Europa keinen Halt. Auch wir sind auf dem Weg, Gemeinschaft und Solidarität abzubauen.

Welche konkreten Gegenstrategien sehen Sie – oder bleibt Ihr Buch am Ende ein Klagelied ohne Ausweg?

Oh, es wäre schön, wenn es ein Rezept dafür gäbe. Leider sind die Themen, die uns heute bewegen so komplex und miteinander verzahnt, dass die Menschen oft verunsichert sind. Ich beobachte, dass die Gesellschaft, insbesondere auch die Politik, praktisch alles wirtschaftlichen Aspekten unterzuordnen scheint. Wirtschaft, Beschäftigung, ist natürlich für unser Wohl wichtig. Es ist aber nur ein Faktor neben anderen, wie ökologischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen. Durch die Dominanz der wirtschaftlichen Aspekte kommen die anderen zu kurz und die Gesellschaft entwickelt sich in eine einseitige Richtung.

Wo würden Sie also ansetzen?

Bei der Bildung. Wir sollten unseren Kindern von klein auf beibringen, welche Aufgaben ein Staat hat und welchen Wert Solidarität und Gemeinschaft haben. Dabei müssen auch unbequeme Themen aufs Tapet gebracht und diskutiert werden. So lernen sie, von Beginn an solidarisch zu handeln. Dazu gehört später auch das Abstimmen und Wählen. Informiert euch, geht abstimmen und wählen!

Soll Ihr Buch auch diesbezüglich Mahnung sein?

Ich wollte eine leicht leserliche und betont satirische Erzählung schaffen, die den Leser mit den heute bestehenden gesellschaftlichen Gefahren konfrontiert. Wobei diese mein persönliches Statement sind, das ich nicht zur Wahrheit erhebe. Mein Buch ist deshalb all jenen Menschen gewidmet, die sich für demokratische Strukturen einsetzen und sich zu einem Staat bekennen, der zum Ziel hat, für alle menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen. Es soll all jene Kräfte stärken, welche realisieren, dass sich existentielle und globale Themen einzig im länderübergreifenden Miteinander lösen lassen.

Zur Person

Ruedi Bollag, geboren 1950 in Zürich, wuchs als zweitjüngstes von fünf Kindern auf. Nach dem Abitur und dem Studium der Jurisprudenz arbeitete er dreissig Jahre als Anwalt in der Ostschweiz. Er ist verheiratet und ist Vater von vier Kindern. Seit seiner Frühpensionierung 2010 leistete er bis 2016 Freiwilligenarbeit bei der NGO «Public Eye», die sich mit globalen Gerechtigkeitsthemen beschäftigt. Seine Lieblingstätigkeiten sind Saxophon spielen, sich in der Natur aufhalten, Kultur und Kunst geniessen sowie lesen. Mit «Am Anfang war das Ohr» legt Bollag seinen ersten belletristischen Text vor. Erschienen ist das Buch im Novum-Verlag.

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