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Der Physiotherapie fehlen die Daten

Peter Roth gründete vor 20 Jahren in Roggwil das Physiotherapie-Zentrum «Medfit». Inzwischen wurde aus dem Ein-Mann-Betrieb ein Unternehmen mit 60 Angestellten an zehn Standorten. Im Interview spricht Roth über die Veränderungen im Gesundheitswesen, veraltete Tarifsysteme und die Generation Z.

Kim Berenice Geser

Peter Roth, der Verband Physioswiss titelte kürzlich in einer Medienmitteilung: «Physiotherapie ist ein schlecht bezahlter Knochenjob». Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Ich stimme dem zu. Denn Physiotherapie ist nicht nur körperliche Arbeit. Es ist auch eine psychische Herausforderung, weil wir mit Menschen zu tun haben, die unterschiedliche Schicksale und dementsprechende Schmerzen haben. Darüber hinaus verlangen die Öffnungszeiten viel Flexibilität. Kunden wünschen sich am liebsten von morgens um sieben bis abends um 19 Uhr Termine. Was in Zeiten der Generation Z fast nicht zu bewerkstelligen ist.

Weshalb?

Weil dieser Generation ihre Freizeit wichtiger ist als Leistung. Wir agieren also im Spannungsverhältnis von Kundenbedürfnissen und einem Generationenkonflikt. Der Kunde will seine Leistung am liebsten unmittelbar beziehen, während die Therapeutinnen und Therapeuten den Job nicht mehr länger als das Wichtigste in ihrem Leben erachten und einen Ausgleich zum Beruf wollen.

Dann ist da noch das veraltete Tarifsystem, das seit über 20 Jahren nicht angepasst wurde ...

Wir erhalten seit 20 Jahren gleich viel Geld für unsere Leistungen. Dies obwohl nicht nur Faktoren wie Miete, Material und Nebenkosten teurer geworden sind. Auch unser Berufsalltag hat sich gewandelt. Wir müssen heute viel mehr Berichte schreiben, weil wir jeden Handgriff für die Krankenkassen und Ärzte dokumentieren müssen. Im Gegensatz zu letzteren können wir diese Leistung aber nicht über die Kasse abrechnen. Physiotherapeuten erhalten 48 Franken für eine Behandlung. Und das ist wohlgemerkt ein Behandlungstarif. Die Nachbereitung ist darin bereits enthalten. Dabei sind heute zehn Prozent der Tätigkeit eines Physiotherapeuten administrative Aufgaben.

«Wir sind Therapeuten, keine Fitnessinstruktoren.»
Peter Roth

Dennoch hat «Medfit» heute zehn Standorte und 60 Mitarbeitende. Erst kürzlich wurden die Standorte Chur, Ilanz und Romanshorn übernommen beziehungsweise neu eröffnet. Ist Ihr Unternehmen von den finanziellen Nöten der Branche also nicht betroffen?

Unsere Herausforderungen sind dieselben, wie in anderen Praxen auch. Auch wir sind vom veralteten Abrechnungsmodell und dem Fachkräftemangel betroffen. Wir haben jedoch in den Aufbau der Medfit Gruppe investiert, mit dem Ziel, durch die Zentralisierung gewisser Bereiche wie der Administration wieder Kosten einsparen zu können.

An allen Standorten arbeiten Sie mit Partnern zusammen. In Roggwil ist es das «Vitalwerk», welches 2019 aus einem Geschäftszweig der «Medfit» gegründet wurde.

Wir haben uns 2019 dazu entschieden, diesen herauszulösen und mit dem «Vitalwerk» eine eigene Firma zu gründen. Das machte strategisch auch Sinn. Wir sind Therapeuten, keine Fitnessinstruktoren. Unsere Kernaufgabe ist die physiotherapeutische Behandlung von Patientinnen und Patienten. Alle Bausteine, die darüber hinausgehen, können wir zwar zusammen mit den Patienten erörtern, deren Ausführung soll aber den Spezialisten in den jeweiligen Gebieten obliegen. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ansprechpartnern so wichtig.

Funktioniert eine Physiotherapie-Praxis allein also nicht mehr?

Meines Erachtens nicht. Besser ist ein Konglomerat von verschiedenen Dienstleistungen und Anbietern. Wir haben Standorte, an denen wir «swissbiomechanics» als Partner mit an Bord haben. In Heerbrugg und im Hamel sind noch medizinische Dienstleistungen integriert, Ernährungsberatung, TCM, Komplementärmedizin oder Osteopathie. Wichtig ist zu bemerken: Wir treten zwar mit allen Partnern unter der Dachmarke auf als Zentrum für Sportmedizin und Bewegung, wirtschaftlich sind wir aber unabhängig voneinander. In der Gesundheitslandschaft fehlt dieser Zusammenschluss verschiedener Spezialisten an einem Ort und der gegenseitige Austausch. Vor 20 Jahren hatte der Hausarzt noch diese Funktion. Bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Heute triagiert er hauptsächlich. Er gibt also alle Fäden aus der Hand. Das macht die Beratung schwierig und wird in Zukunft auch die Frage aufwerfen, welche Aufgabe dem Hausarzt in unserer Gesundheitsversorgung noch zukommen wird. Was in unserem Modell geschätzt wird, ist der Blick aus verschiedenen Perspektiven auf dasselbe Problem.

Peter Roth, Gründer der Firma «Medfit», in seiner Praxis in Roggwil.
Peter Roth, Gründer der Firma «Medfit», in seiner Praxis in Roggwil.
© Kim Berenice Geser

Dieses Gesamtpaket mit Physiotherapeut, Biomechaniker und Fitnessinstruktor klingt verlockend, aber auch kostenintensiv.

Es gilt hier festzuhalten, dass dieses Paket vor allem bei den zehn bis zwanzig Prozent der komplexen Fälle zur Anwendung kommt. Der Grossteil unserer Patientinnen und Patienten erreicht mit der gängigen Physiotherapie-Verordnung seine Ziele. Und ja, die komplexen Fälle sind kostenintensiver. Wir versuchen jedoch mit einer gemeinsamen Lösung und einem gemeinsamen Blickwinkel Kosten zu sparen. Schickt man diese Fälle von Spezialist zu Spezialist steigen die Kosten um ein Vielfaches.

Wie haben sich die Patientenzahlen seit den Anfängen von «Medfit» vor 20 Jahren verändert?

Das ist aufgrund unseres Wachstums und der verschiedenen Standorte schwierig zu beurteilen. Im Schnitt behandelt bei uns ein Physiotherapeut 16 bis 20 Patienten pro Tag.

Happige Zahlen. War die Auslastung schon zu Beginn so hoch?

Natürlich hat ein Anstieg stattgefunden. Das liegt einerseits an der Zunahme ambulanter Behandlungen, aber auch an der demographischen Entwicklung. Unsere Bevölkerung wird immer älter. Und die Bedürfnisse der Kunden ändern sich auch. Niemand will heute mehr Schmerzen haben. Früher hat man bei Verspannungen noch Selbsthilfe betrieben, Sport gemacht oder ähnliches. Heute holt man sich umgehend eine Physiotherapie-Verordnung. Der Konsum von Dienstleistungen ist heute höher als früher.

«Statt wie früher einen Sack voll Medikamente erhält man heute eine Physiotherapieverordnung.»
Peter Roth

Verschreiben Ärzte heute auch schneller eine physiotherapeutische Behandlung als früher?

Jein. Ein Teil des Anstiegs geht wie gesagt auf das Bevölkerungswachstum zurück. Aber es ist schon so, dass heute vor einem kostspieligen Untersuch eher einmal eine Physiotherapie verordnet wird. Denn diese ist verhältnismässig günstig. Eine erste Behandlungsserie kostet rund 480 Franken. Statt wie früher einen Sack voll Medikamente erhält man heute eine Physiotherapieverordnung (schmunzelt).

Mit dem erhöhten Patientenaufkommen steigt auch der Personalbedarf. Wie erleben Sie den Fachkräftemangel?

Es ist ein mehrschichtiges Problem. 70 Prozent unserer Mitarbeitenden in der Therapie sind Frauen. Das heisst, aufgrund von Mutterschaft fehlt uns immer wieder Personal. Dann kommt der eingangs erwähnte soziale Wandel hinzu. Viele Junge wollen bereits beim Berufseinstieg nicht hundert Prozent arbeiten. Heute brauchen wir circa sieben Personen, um 400 Stellenprozent abzudecken.

Wie viele Stellen fehlen bei «Medfit» derzeit?

Acht bis zehn 100-Prozent-Pensen.

Sie haben während der Pandemie die «Medfit Academy» gegründet, ein Programm zur internen Weiterbildung Ihrer Angestellten. Ihre Antwort auf den Fachkräftemangel?

Wir wollen als Arbeitgeber am Markt attraktiv bleiben. Derzeit sind in unserer Branche schweizweit rund 700 Stellen offen. Da gilt es sich abzuheben. In der «Academy» werden die Mitarbeitenden in drei Bereichen weitergebildet: Persönlichkeitsentwicklung, fachliche Weiterbildung und Leadership-Programme für unsere Standortleitenden. Für unsere Mitarbeitenden ist dieses Angebot kostenlos und es zeigt nicht nur intern Wirkung. Seit wir die «Academy» ins Leben gerufen haben, erhalten wir wieder Bewerbungen.

Das eingangs angesprochene Problem des veralteten Tarifsystems bleibt jedoch bestehen. Warum schafft es der Branchenverband nicht, hier eine Änderung zu erzielen?

Das System ist zu träge. Der «Physioswiss» fordert seit Jahren nur, statt wirklich den Dialog mit den Kassen zu suchen, um herauszufinden, welche Daten den Nutzen unserer Arbeit erfassbar machen würden. Wir müssen doch die Behauptung, unsere Behandlung ist effizienter und kostengünstiger als beispielsweise operative Eingriffe, auch belegen können. Mit Zahlen, welche die Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit einer Behandlung belegen, ist ein Dialog möglich. Ich denke auch nicht, dass man der Physiotherapie nicht mehr Geld geben will. Aber man kann doch nicht mehr Gelder für etwas sprechen, wofür keine Daten vorhanden sind.

«Vor zwanzig Jahren war ich ein bunter Hund in der Branche, weil ich der Bewegung in der Therapie mehr Gewicht gab», erinnert sich Peter Roth. Heute ist dieser Ansatz weit verbreitet.
«Vor zwanzig Jahren war ich ein bunter Hund in der Branche, weil ich der Bewegung in der Therapie mehr Gewicht gab», erinnert sich Peter Roth. Heute ist dieser Ansatz weit verbreitet.
© Kim Berenice Geser

Warum sind diese Daten nicht vorhanden?

Wir arbeiten mit Individuen zusammen. Jede Krankheitsgeschichte ist individuell, deshalb sind standardisierte Datensätze im Gesundheitswesen schwierig zu erstellen. Wenn es für jedes Problem eine standardisierte Diagnose gäbe, könnten wir künftig mit künstlicher Intelligenz arbeiten.

Bei einem Befund, werden doch aber Daten erfasst.

Ich habe einen Befund in Textform. Aber eben keine standardisierten Daten im Sinne von: Bei einem kaputten Knie wird Test XY gemacht, der ein bestimmtes Ergebnis liefert. Andere Tests scheitern an der Validität. Will heissen, wenn zwei Personen den gleichen Test machen, haben sie unterschiedliche Resultate. Auch das hilft uns für die Datenerhebung nicht weiter.

Was wäre also nötig?

Langzeitstudien, die belegen könnten, dass eine Physiotherapie-Behandlung nach fünf, zehn, zwanzig Jahren günstiger kommt als eine Knie-OP, die dank der Therapie verhindert werden konnte.

Solche Studien brauchen Zeit, die Physiotherapeuten jedoch zeitnahe Lösungen. Sehen Sie andere Möglichkeiten, das Tarifsystem zu ändern?

Behandlungspauschalen wären eine solche. Dass man beispielsweise für die Behandlung einer Hüfte einen bestimmten Betrag erhält und mit diesem dann selbst haushalten muss. Auch die Abwälzung eines Teils der Kosten auf die Patienten wäre möglich. So oder so braucht es neue Denkansätze und die Zusammenarbeit der einzelnen Ansprechpersonen im Gesundheitswesen.

Eine Abwälzung der Kosten auf die Patienten bedürfte einer gesetzlichen Regelung, denn die Physiotherapie wird derzeit über die Grundversorgung abgerechnet.

Genau. Aber wenn der Leidensdruck genug hoch ist und auf immer weniger Therapeuten mehr Patienten kommen, führt daran unter Umständen kein Weg vorbei. Es gibt ja bereits heute Therapeuten, die nicht über die Kasse abrechnen und gut damit leben. Ein medizinischer Masseur beispielsweise hat eine schlechtere Ausbildung als ein Physiotherapeut, verdient aber rund 20 Prozent mehr. Eine andere Lösung, die immer mehr Physiotherapeuten fordern und die ich auch unterstütze, ist der Direktzugang. Das heisst, der Patient könnte, ohne vorher beim Hausarzt vorbeizugehen, direkt zur Therapie kommen. Bundesrat Alain Berset meinte unlängst, ob es kostengünstiger sei oder nicht, müsste ausprobiert werden. Die Kassen sind eher dagegen. Sie befürchten höhere Kosten. Doch zumindest ist die Diskussion angestossen.

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