zum Inhalt springen

·

Zur Artikelübersicht

Der Tag als die «P-16» fiel

Mit der Serie «Lebenslinien» begibt sich unsere Reporterin auf Zeitreise zu früheren Generationen, die aus ihrem Erfahrungsschatz berichten, oder Erlebnisse und Anekdoten zum Besten geben. Heute erinnert sich die Zeugin eines Absturzes, wie sie diesen aus nächster Nähe mitverfolgte.

Alice Hofer

«Die P-16 war damals in aller Munde», erzählt Erika Moser, «sie war die Sensation aus Altenrhein.» Man habe ja weder TV noch Radio gehabt, also sei man besonders interessiert gewesen an diesen Testflügen. So auch am 31. August 1955, als sie mit ihrer Mutter zuschaute, wie die Maschine rasch an Höhe verlor und im Tiefflug daherkam: «Dann löste sich der Schleudersitz und landete in der Wiese unweit unseres Hauses in Steinach. Wir wussten, es gab nur ein Triebwerk, einen Sitzplatz und folglich nur einen Piloten, das musste er also sein. Es ging alles sehr schnell, das Flugzeug stürzte dann direkt in den See.» Sie wollte der Sache auf den Grund gehen, schwang sich aufs Fahrrad. Der Pilot, Hans Häfliger, war gerade unter einem Baum hervorgekrochen. Er schien unverletzt und hatte grosses Glück gehabt. «Er lief eilig vorbei, vermutlich, um irgendwen anzurufen. Man trug ja damals keine Telefone auf sich.» Sie selber sei dann wieder zur Arbeit geradelt nach Horn, in die Raduner Textilfabrik. Von dort aus konnte sie kurz darauf zusehen, wie der ‹Bomber-Schaffner› das Wrack aus dem Wasser zog. So sehr hat sich das Ereignis eingeprägt, dass sie es heute, 66 Jahre später, erzählen kann, als sei es gestern gewesen. «Man war damals nicht abgelenkt durch die mediale Flut von Bildern, sondern hat die einzelnen Vorkommnisse noch bewusst wahrgenommen.»

… was leuchten soll im Vaterland

Erika Moser war 16-jährig und gerade vom Haushalt-Lehrjahr aus St. Gallen zurückgekehrt. In der sogenannten «Villa Wahnsinn» an der Dufourstrasse lebten damals die Unternehmer Curt und Erna Burgauer mit ihren drei Kindern. Die Textilfabrikation florierte, der Familienvater machte sich nebenher einen Namen als Kunstsammler und Mäzen. Das Anwesen war so gross, dass man sich leicht verirren konnte; die Lehrtochter wurde angewiesen, den Park nicht zu betreten und stets den Personaleingang zu benutzen, nicht das Hauptportal. Der Diener lehrte sie kochen, während Frau Burgauer ihr die Kunst der Haushaltsführung beibrachte. «Sie war die Schönste weit und breit, eine Art Grace Kelly», schwärmt Erika Moser.

«Sie wünschte oftmals in ihren eigenen Gemächern zu frühstücken und bat mich telefonisch um entsprechende Vorbereitungen. Der Zutritt zum Privatbereich war mir allerdings untersagt, serviert wurde das Tablett vom Diener. Dafür erlaubte Frau Burgauer mir ausnahmsweise auch mal, vor der Türschwelle des ‘blauen Salon’ mit ihr ein paar Worte zu wechseln, was andern Bediensteten wiederum verwehrt blieb.» Eine weitere Ausbildung stand nicht zur Diskussion, also ging sie arbeiten und wohnte bei der Mutter, denn eine eigene Wohnung konnte sie sich nicht leisten. «Als Mutter unerwartet bei einem Unfall verstarb, musste ich nach Roggwil zum Vater, der nach der Scheidung bei seiner Schwester untergekommen war. Das war nun für uns alle sehr unkomfortabel». Die junge Frau war inzwischen in St. Gallen tätig. Der Arbeitsweg führte mit dem Velo von Roggwil nach Arbon, dann mit dem Zug via Rorschach nach St. Gallen. Das Fahrrad hatte sie sich durch Aushilfe in den Obstplantagen finanzieren können. Und um ein Zubrot zu verdienen, servierte sie sonntags oft in einem Café in Rorschach, wo sie auch ihren Mann kennen lernte. «Natürlich haben wir so bald als möglich geheiratet», schmunzelt sie, «damit ich daheim ausziehen konnte.»

Späte Liebe rostet nicht

Der Gatte verstarb früh, und die beiden Söhne musste sie ebenfalls gehen lassen. Geblieben sind eine liebevolle Schwiegertochter, Enkel und gar Urenkel, für die sie mit Freude hübsche Sachen strickt. Auch hatte sie mit ihrem Lebenspartner Emil noch einmal die grosse Liebe erleben und 25 wundervolle Jahre verbringen dürfen, wofür sie sehr dankbar ist. Nach seinem Tod hat sie im Seniorenzentrum ihr neues Zuhause gefunden, und dazu sogar noch alte Klassenkameradinnen von früher. «Es gibt so viel Schönes im Leben» ist Erika Moser überzeugt, «man muss es einfach nur sehen!» Herumnörgeln und jammern sei nicht ihre Art. Mittags trifft man sich im Restaurant zum Essen, und sie fühlt sich wohl in ihren eigenen vier Wänden. Diese sind geschmückt mit Fotos ihrer Liebsten, und ein farbiges Bild fällt besonders auf: Das Schloss Rorschacherberg, gemalt vom damaligen Besitzer Olivier Foss. «Ich hatte dessen Tochter Mirjam Foss kennengelernt und das Gemälde von ihr erwerben können», erklärt die 85-Jährige munter. Und was möchte Erika Moser der jungen Generation ganz allgemein sagen? «Wir waren stets bereit, mit anzupacken und auch mal zu gehorchen, um etwas zum Allgemeinwohl beizutragen. ‘Ich mag nicht’ und ‘ich kann nicht’ waren bei uns keine Optionen. Man kann immer über sich hinauswachsen.» Wie der Pilot, der nach seinem Absturz wieder aufstand und weiterging.

Anzeigen