«Ich bin nicht mit Talent gesegnet»
Kim Berenice GeserDas Dachgeschoss des Restaurants Mammertsberg lädt zum Verweilen ein: Polstergruppen in erdigen Tönen, dicke Bildbände auf fast jedem Fenstersims und eine Aussicht auf den Bodensee, die einen selbst an einem verhangenen Tag kurz innehalten lässt. Silvio Germann folgt dem Blick der Besucherin: «Es ist schon ein Privileg, mit dieser Aussicht zu arbeiten.» Seit einem Jahr kocht er im Restaurant Mammertsberg. Zuvor führte er in Bad Ragaz das Restaurant Igniv von Andreas Caminada. Der Spitzenkoch hat Germann unter seine Fittiche genommen und ihn nach sieben Jahren «Igniv» ins Abenteuer «Mammertsberg» losgeschickt. Was sich gelohnt hat: Diesen Spätsommer erhielt Silvio Germann für seine Tätigkeit in Freidorf 18-Gault-Millau Punkte, zwei Michelin-Sterne und den Titel «Koch des Jahres 2024». Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs ist das alles rund ein Monat her. Er setzt sich auf eine der Couchen, die Hände verschränkt, einen Arm auf die Lehne gelegt. Von der anderen Seite des Raumes dringen leise Stimmen herüber, eine Servicefachfrau bringt Kaffee. «Danke Belinda», lächelt Germann in ihre Richtung, um sogleich seine Aufmerksamkeit zurück zum Gespräch zu lenken. «Was wollen Sie denn wissen?»
Kochen Sie eigentlich gerne oder sind Sie einfach nur gut darin?
Silvio Germann: Zuhause oder im Restaurant? (lacht) Grundsätzlich koche ich sehr gerne. Als Koch baut man diese Leidenschaft definitiv auch auf, das braucht Zeit und Geduld. Und ein gutes Team, mit diesem arbeitet man schliesslich täglich zusammen. Meist sieht man seine Arbeitskolleginnen und -kollegen mehr als den Partner oder die Partnerin zuhause, das muss also schon gut funktionieren. Was bei uns zum Glück der Fall ist.
Sie haben bei Andreas Caminada gelehrt und sieben Jahre lang dessen Restaurant Igniv im Grand Resort Bad Ragaz geführt. Was hat Sie nach dieser Zeit nach Freidorf gelockt?
Nach diesen sieben lehrreichen Jahren wollte ich mich einer neuen Challenge stellen. Dass Andreas gerade zu diesem Zeitpunkt das Projekt Mammertsberg unterbreitet wurde und ich dafür seine erste Wahl war, ist wohl mein grosses Glück. Bei meinem ersten Besuch im «Mammertsberg » war ich sofort hin und weg vom Objekt und dessen Potential.
Ganz grundsätzlich: Wie wird man eigentlich Spitzenkoch?
Das weiss ich auch nicht so genau (lacht). Ich habe mir damals in der Oberstufe verschiedene Berufe angeschaut und Koch hat mir am Besten gefallen. Ich konnte dann meine Ausbildung in einem kleineren, gutbürgerlichen Restaurant absolvieren. Danach habe ich eine Zeit lang im Ausland gearbeitet, worauf die Zeit bei Andreas Caminada folgte. Das war auf jeden Fall der bisher prägendste Punkt in meiner Laufbahn. Auch weil er mir das «Igniv» anvertraute, obwohl er zuerst meinte, ich sei eigentlich zu jung dafür (Anmerkung der Redaktion: Silvio Germann war damals 25 Jahre alt). Ich habe mich dafür auf jeden Fall reingehangen, aber ich war sicher auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ausserdem gibt es viele Leute, die mit Talent gesegnet sind. Ich glaube, ich bin keiner davon.
Der «Koch des Jahres 2024» mit 18 Gault-Millau Punkten soll kein Ausnahmetalent sein?
Ich habe nicht das Gefühl, nein. Als ich bei Andreas anfing, war ich oft überfordert, der Schritt zu ihm war ein grosser. Aber ich wollte es durchziehen, hatte dann auch viele lange und strenge Tage. Ich glaube auf diesem Weg zum Spitzenkoch kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man sich entscheiden muss: Entweder ziehe ich das jetzt durch oder ich lasse die Koch-Karriere bleiben. Das beginnt wohl schon in der Lehre. Während meine Kollegen am Wochenende Fussball-Matches hatten, musste ich arbeiten. Da braucht man bereits Durchhaltevermögen. Ich habe mich zwar nicht mit 16 Jahren dazu entschieden, Spitzenkoch zu werden, aber ich habe den Willen dazu entwickelt und am Ende auch das Glück, dass Andreas auf mich gesetzt hat.
Zu den eben erwähnten Auszeichnungen kamen Anfang Oktober zwei Michelin-Sterne hinzu. Wie wirken sich diese Bewertungen auf Ihr Kochen aus?
Mir ist es wichtig, dass wir so weitermachen wie bisher. Das habe ich auch meinem Team gesagt. Schliesslich haben wir diese Auszeichnungen mit der Art erreicht, wie wir sie bisher an den Tag gelegt haben.
Aber ist denn der Druck mit diesen Gütesiegeln der Branche nicht gestiegen?
Wir bemerken schon, dass unsere Gerichte teilweise kritischer beäugt werden. Aber das ist auch gut so, unsere Gäste und auch wir selbst sollen kritisch bleiben. Es bringt uns nichts, jetzt mit einer «Wir sind die Geilsten»-Haltung blindlings unser Ding durchzuziehen. Mir ist es wichtig, die Kritik der Gäste ernstzunehmen. Das hilft uns, besser zu werden. Wir können schliesslich stets dazu lernen.
Sie sprechen fast durchgehend von einem «Wir», betonen die Arbeit Ihres Teams, obwohl Sie sich als «Koch des Jahres 2024» auch einfach selbst ins Rampenlicht stellen könnten.
Ohne mein Team wäre eine solche Auszeichnung gar nicht möglich gewesen. So beginnt ein Besuch bei uns mit einem herzlichen Service, das hinterlässt einen bleibenden ersten Eindruck. Das «Mammertsberg»-Erlebnis besteht eben nicht
nur aus mir, sondern hängt von meinem ganzen Team ab. Deshalb braucht es überall gute Leute, in der Küche wie auch an der Front.
Inwiefern ist es Ihnen möglich, bei Ihren Gerichten auf Saisonalität und Regionalität zu achten?
Wir versuchen möglichst vieles aus der Region zu beziehen. Früchte und Gemüse haben wir zum Beispiel von einem Zulieferer in Freidorf, die Büffelmilch kommt aus Muolen. Neben dem Aspekt der Regionalität finde ich es auch immer spannend, die Menschen hinter den Produkten kennenzulernen und von ihrem Wissensschatz zu lernen. Aber klar gibt es auch gewisse Zutaten, die nicht aus der Region sind. Wenn wir dann beispielsweise ein Angus-Steak verarbeiten, ist es mir dafür besonderes wichtig, respektvoll damit umzugehen und alles zu verwerten, was irgendwie möglich ist.
Wer im Restaurant Mammertsbergein 3-Gang Menü bestellt, bezahlt 186 Franken, für ein 5-Gang Menü 238 Franken. Sind diese Preise gerechtfertigt?
Was wir hier machen, ist sehr personalintensiv. Insgesamt beschäftigt der «Mammertsberg» 19 Angestellte. Das ist auf jeden Fall unser höchster Kostenpunkt. Hinzu kommt, dass wir bei unseren Produkten auf die höchste Qualität achten, vom Rehrücken bis zur Karotte. Und so eine Karotte vom Bio-Hof aus der Region ist nun mal teurer als das aus Holland importierte Pendant. Gerechtfertigt ist der Preis ausserdem, wenn man das Gesamterlebnis betrachtet. Zu jedem Menü erhält man Häppchen und Amuse Bouches in der Lounge, in welcher man den Köchen und Köchinnen bei ihrer Arbeit zusehen kann. Danach geht die Reise weiter in den Hauptspeisesaal, wo wir die Gäste auch immer wieder fragen, ob sie genug haben. Die Hauptsache ist, dass sie am Schluss satt sind. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die Gäste am Ende hungrig hinaus gehen – oder überessen, das wollen wir auch nicht. Wir versuchen stets die richtige Balance zu finden.
Stichwort Gäste: Sie haben in einem «normalen» Restaurant mit Ihrer Karriere angefangen und sich zum Starkoch hochgearbeitet. Ihr Klientel hat sich damit auch verändert. Würden Sie manchmal gerne wieder für den «Normalbürger» kochen?
Ich selbst esse auf jeden Fall sehr gerne so; wenn dahinter eine Person steht, die mit Leidenschaft kocht, dann schmeckt man das auch. Das ist die Hauptsache. Zuhause koche ich ausserdem auch eher einfach. Aber beruflich bin ich jetzt schon lange auf dieser Gourmet-Schiene. Ein «normales», gutbürgerliches Restaurant zu führen würde mich auf jeden Fall anders herausfordern. Es wäre für mich schon schwer, im Mittagsstress 120 Personen zu verpflegen. Ich selbst sehe mich da nicht mehr.
Beizensterben, Fachkräftemangel, ausbleibende Gäste – in der Gastronomie kriselt es schon länger. Verraten Sie mir: Steht es so schlimm um die Branche oder beklagen sich Gastronomen einfach gerne?
Die Probleme sind auf jeden Fall vorhanden, auch wenn wir nach Corona wieder ein gutes Jahr hatten. Alle wollen wieder essen gehen. Aber der Fachkräftemangel bleibt akut. Viele Arbeitnehmende haben während der Pandemie bemerkt, dass es doch noch schön ist, am Abend frei zu haben. Wir hatten zum Glück kein Problem, Personal für die Küche zu finden. Im Service ist das teilweise schwieriger.
Wie erklären Sie sich das?
Als Koch kommt man unter anderem in ein Restaurant wie den «Mammertsberg», weil sich das gut im Lebenslauf macht. Im Service ist das anders, der hat in vielen Köpfen noch einen anderen Stellenwert. Ausserdem fehlt teilweise die Wertschätzung von Seiten der Arbeitgeber. Mir ist es deshalb wichtig, meinem Personal Zukunftsperspektiven zu bieten, ihnen beispielsweise eine Saison im «Igniv» in Bangkok zu ermöglichen. Und ihnen mehr zuzutrauen, als nur Teller rein und raus bringen. Der Service ist schliesslich Teil des Ganzen. Deshalb ist für mich das Service-Personal genau so wichtig wie das Küchen-Team. Wenn Sie in ein Restaurant gehen und das Essen war super, aber die Bedienung richtig schlecht, dann wollen Sie da nicht mehr hin, oder?
Ein abrupter Themenwechsel zum Schluss: Die höchste Gault-Millau- Auszeichnung von 19 Punkten erhielten dieses Jahr fünf Köche und eine Köchin; ein Muster, dass sich in den höchsten Rängen der Kochwelt wiederholt. Weshalb fehlt es an Spitzenköchinnen?
Das ist eine gute Frage. (überlegt kurz) Das hängt vermutlich mit der Familienplanung zusammen. Von meiner Berufsschulklasse ist zum Beispiel nur noch eine von zehn Frauen im Beruf tätig. Und es stimmt, es gibt wenige Frauen im
oberen Segment. Es ist schon hart, ein Restaurant auf diesem Niveau zu führen, und wenn man dann noch Familie hat sowieso. Ich schätze jedenfalls eine gute Mischung in meinem Team, bei uns in der Küche kommen drei Frauen auf fünf Männer. Der Umgang untereinander ist dann ein anderer, respektvoller. Das ist mir sowieso wichtig, ob es jetzt um Menschen, Produkte, Materialien geht. (Greift nach der Kaffeetasse auf dem Tisch) Diese Tasse zum Beispiel ist reine Handarbeit und kostet 80!Franken. Das wissen meine Mitarbeitenden und gehen auch entsprechend damit um.
Silvio Germann stellt die Tasse behutsam wieder ab und erhebt sich. Bald schon ist Mittagszeit, auf dem Weg nach draussen kommen ihm die ersten Gäste entgegen. Ein etztes Mal wendet er sich der Interviewerin zu, bedankt sich für den Besuch und begrüsst dann die Neuankömmlinge: «Darf ich Ihnen gleich die Jacke abnehmen?»