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Kunst ist eine Pause vom Hamsterrad

Seit Anfang Jahr ist Martina Venanzoni die neue Kuratorin der Kunsthalle Arbon. Im Interview spricht sie über die Schäden der Sparmassnahmen in der Kulturbranche, das nationale Renommee der «Kunsthalle» und was sie sich für die Arboner Kunstinstitution wünscht.

Laura Gansner

In der Kunsthalle Arbon rauscht und prasselt es, als ob ein Regenschauer über das Gebäude an der Grabenstrasse 6 ziehen würden. Doch draussen ist schönstes Wetter. «So klingt es hier drinnen immer, wenn es warm wird», erzählt Kuratorin Martina Venanzoni mit einem Blick zur Decke. Das gehöre zum Charme dieses historischen Gebäudes, welches der Unternehmer Friedrich August Schädler vor rund 100 Jahren als Lagerhalle für seine Blechanfertigungen hat bauen lassen. Während sich hier früher Schubkarren und Gartenmöbel türmten, bespielt seit mehr als 20 Jahren die Kunsthalle Arbon das ehemalige Industriegebäude mit Kunstinstallationen. Wie Martina Venanzoni so ganz nebenbei über die Geschichte der Kunsthalle berichtet, während sie im Nebenraum der Ausstellungshalle Kaffee zubereitet, würde man nicht ahnen, dass sie erst seit Februar dieses Jahres für die Institution im Einsatz ist.

Martina Venanzoni, Sie sind in St. Gallen aufgewachsen und haben in Basel, Zürich und Buenos Aires Kunstgeschichte studiert. Aktuell wohnen Sie auch in Basel. Weshalb haben Sie sich für die Arbeit als Kuratorin in der Kunsthalle Arbon entschieden?

Die Kunsthalle Arbon geniesst national einen guten Ruf in der Kunstszene. In den letzten Jahren ist es dem Team hinter der Kunsthalle gelungen, mit Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Schweiz zusammen zu arbeiten, wodurch sich der Ausstellungsort zu einem Geheimtipp gemausert hat. Das liegt auch an den Räumlichkeiten selbst, die durch ihre spezielle Architektur die Möglichkeit für grosse Kunstinstallationen bieten.

Die Halle ist also quasi Teil der Kunstausstellungen?

Definitiv. Der erste Schritt in der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern ist es jeweils, sich mit ihnen vor Ort zu treffen, damit sie sich die Frage stellen können: Schaffe ich es, mit meiner Kunst diese Halle zu bespielen? Das ist nämlich nicht so einfach. Wenn man hier ausstellen will, geht es gar nicht anders als sich auf diesen Ort einzulassen. Das leuchtet den Kunstschaffenden auch ein. Zudem sind eigentlich alle interessiert an der Geschichte der Halle, die von der Firma Schädler gebaut wurde. Zum Beispiel arbeitet der Künstler Max Leiß in seiner Ausstellung «Seestück», welche wir dieses Wochenende eröffnen dürfen, mit Schubkarren; einem der Hauptprodukte der Firma Schädler. Andere Kunstschaffende lassen sich dann mehr auf die Architektur des Gebäudes ein oder schaffen anderweitig eine Verbindung zum Ort, zur Stadt Arbon oder zum Bodensee.

Kuratorin Martina Venanzoni in der Kunsthalle Arbon, in der aktuell die dritte Ausstellung – «Seestück» von Max Leiß – unter ihrer Leitung ausgestellt wird.
Kuratorin Martina Venanzoni in der Kunsthalle Arbon, in der aktuell die dritte Ausstellung – «Seestück» von Max Leiß – unter ihrer Leitung ausgestellt wird.
© Laura Gansner

Auf der Webseite der Kunsthalle Arbon ist zu lesen, dass der Bezug zur Region in der Auswahl der künstlerischen Positionen von Bedeutung ist. Heisst das, dass Sie Künstlerinnen und Künstler aus der Region anderen vorziehen?

Ein geografischer Bezug ist keine Voraussetzung, um in der Kunsthalle Arbon ausstellen zu können. Klar sollen auch Kunstschaffende aus der Region hier eine Plattform erhalten. Da will ich mich noch mehr einarbeiten, weil ich es wichtig finde, dass sich die ansässigen Kunstschaffenden in der Kunsthalle gespiegelt fühlen. Es ist aber nicht unsere Idee, dass wir uns auf ortsansässige Künstlerinnen und Künstler beschränken; nur schon deshalb nicht, weil viele für ihr Studium aus der Ostschweiz wegziehen und nicht mehr zwingend zurückkehren.

Sozusagen ein künstlerischer «Braindrain». Wie gelingt es, dass Kunstschaffende mit ihrem Wissen und ihren Werken in die Ostschweiz zurückkehren wollen?

Mit einem attraktiven Angebot an Räumlichkeiten einerseits und einer guten kantonalen Kulturförderung andererseits. Das kann in Form einer Veranstaltungsreihe sein. Das länderübergreifende Ausstellungsprojekt Heimspiel ist ein gutes Beispiel dafür, weil die Veranstaltung – getragen von verschiedenen Kulturämtern – Kunstschaffenden mit Bezug zur Region eine Plattform bietet. Aber auch die Unterstützung von Institutionen wie der Kunsthalle Arbon ist wichtig. Wir haben das Glück, von der Stadt Arbon und der Kulturförderung des Kantons Thurgau finanziell unterstützt zu werden. Grundsätzlich gilt: Je mehr finanzielle Mittel und Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, desto grösser ist die Möglichkeit für eine nachhaltige Kulturförderung. Am Interesse der Künstlerinnen und Künstler, ihre Werke auszustellen, soll es nicht scheitern. Auch das Interesse der Besuchenden ist kein Problem. Das ist jedenfalls meine Erfahrung hier in der Kunsthalle.

Und dies trotz der gesamtschweizerisch betrachtet dezentralen Lage der Kunsthalle Arbon?

Ja, ich bin extrem positiv überrascht von den Besuchszahlen der Kunsthalle Arbon. Eine durchschnittliche Ausstellung hat so zwischen 300 und 500 Besuchende, eine Top–Ausstellung zwischen 700 und 800. Ich kenne da aus Basel wirklich andere Zahlen. In einer solchen Stadt mit einem so grossen Kulturangebot ist es schwieriger, genügend Leute für eine Veranstaltung zu begeistern. Hier profitieren wir unter anderem davon, dass sich viele Personen stark mit der Kunsthalle Arbon identifizieren. Wir haben auch einige Stammgäste. Ausserdem, und das ist fast schon einzigartig an diesem Standort, dürfen wir ein Laufpublikum an Touristinnen und Touristen begrüssen, die beispielsweise mit dem Velo vorbei fahren und ganz spontan anhalten und sich die Ausstellung ansehen möchten.

«Ein gutes Kulturangebot generiert einen Mehrwert für die Wahrnehmung der Region auf nationaler Ebene.»
Martina Venanzoni

Zurück zur Kulturförderung. Die ist zur Zeit ein heisses Eisen im Kanton Thurgau. Anfang Jahr gab der Regierungsrat bekannt, dass bei grossen Sanierungsprojekten der kantonalen Museen gespart wird. Die Eröffnung des neuen historischen Museums Werk2 wird zudem um fast zehn Jahre nach hinten verschoben. Wie bewerten Sie diese politischen Entschlüsse?

Ein gutes Kulturangebot generiert einen Mehrwert für die Wahrnehmung der Region auf nationaler Ebene. Auch in der Wahrnehmung der Touristinnen und Touristen, die hier durchkommen. Ich wünsche mir, dass dies auf politischer Ebene erkannt wird. Kunst im breiten Sinne des Wortes wird zwar sowieso immer irgendwie existieren. Viele Kunstschaffende gehen ihrer Tätigkeit mit einer solchen Leidenschaft nach, dass sie auch mit wenig Geld etwas auf die Beine stellen können. Aber ohne genügend finanzielle Mittel kommen die Archivierung und Dokumentation des Zeitgeschehens zu kurz, was langfristig betrachtet den grösseren Schaden anrichtet, als dass dies die Vorteile einer kurzfristigen Geldeinsparung aufwiegen könnten.

Befürchtet die Kunsthalle Arbon als Empfängerin von Geldern der Kulturförderung des Kantons auch von den Sparmassnahmen getroffen zu werden?

Aktuell zeichnen sich keine Hinweise dafür ab. Wir handeln jeweils eine Leistungsvereinbarung von drei Jahren mit dem Kanton aus. Der aktuelle Vertrag läuft noch bis und mit 2025.

Seit Anfang Februar kuratiert die Kunsthistorikerin Martina Venanzoni die Ausstellungen der Kunsthalle Arbon.
Seit Anfang Februar kuratiert die Kunsthistorikerin Martina Venanzoni die Ausstellungen der Kunsthalle Arbon.
© Laura Gansner

Kultur ist oft einer der ersten Bereiche, in denen die Politik bereit ist zu sparen. Weshalb ist das Ihrer Erfahrung nach der Fall?

Weil der Nutzen daraus nicht so greifbar ist. Künstlerinnen und Künstler bauen eben kein Haus, sie arbeiten abstrakter. Dennoch denke ich, dass Kunst genauso essentiell ist wie Berufe, die direkt nutzbare Dinge produzieren. Denn durch die Behandlung von gesellschaftsrelevanten Themen regt sie zur Reflexion darüber an, was wir eigentlich gerade machen. Sind keine Räume dafür vorhanden, dann befindet man sich als Gesellschaft in einem Blindflug der Produktion. Dies zu verhindern, kleine Pausen vom Hamsterrad zu ermöglichen, das ist es, was Kunst leisten kann.

Kunst sollte dementsprechend für alle zugänglich und verständlich ausgestellt werden. Doch als Normalbürgerin, Normalbürger können Kunstausstellungen oft einschüchternd wirken, wenn das Gefühl entsteht, man müsse ein enormes Vorwissen mitbringen, um die Kunstobjekte zu verstehen.

Es gibt sicherlich Ausstellungen, die ein Publikum ansprechen, das ein Kunst-Vorwissen mitbringt. Das ist manchmal auch okay. Ich denke nicht, dass jede Ausstellung für 100 Prozent der Bevölkerung interessant sein muss. Aber es gibt kein Prozent der Bevölkerung, für die gar keine Ausstellung spannend ist. Viel kann über eine Themenvielfalt erreicht werden, die mir persönlich sehr wichtig ist. Und auch darüber, dass die Kunst gut vermittelt wird.

«Es gibt kein Prozent der Bevölkerung, für die gar keine Ausstellung spannend ist.»
Martina Venanzoni

In welchen Themenschwerpunkten sehen Sie als Kuratorin zukünftig Potenzial für die Kunsthalle Arbon?

Da gibt es ganz viele. Ich möchte jedoch nicht einen konkreten Schwerpunkt setzen und mich dabei thematisch eingrenzen. Grundsätzlich habe ich aber den Anspruch, Kunst zu zeigen, die ein Thema aufgreift, welches aktuell ist, sei dies Migration, Ökologie, Gender oder ökonomische Fragen. Denn mir ist es wichtig, Kunst zu zeigen, die nicht nur schön aussieht, sondern auch einen gesellschaftspolitischen Hintergrund hat. Was mich ausserdem interessiert sind Grenzüberschreitungen von Kunstformen. Ich kann mir vorstellen, auch einmal Ausstellungen mit Kreativen aus der Designbranche oder Architektur zu kreieren. Oder mit Kunstschaffenden aus dem Textilbereich. Dafür gibt es in Arbon schliesslich genügend Anknüpfungspunkte.

Sie haben den Themenbereich Gender angesprochen. Sie waren selbst bis und mit letztem Jahr kuratorische Leiterin von FAT, einem Kunstverein, der sich seit 2016 für die Inklusion von Frauen in der Kunstwelt engagiert. Wie beeinflusst dieser Hintergrund Ihre Arbeit in der Kunsthalle Arbon?

Mir ist es sicherlich wichtig, auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis in den Ausstellungen zu achten. Aber die Kategorie Geschlecht ist nur ein Faktor, den es zu beachten gilt. Ich will deshalb ganz grundsätzlich einen guten Mix aus Generationen, Geschlechtern, Herkunft zeigen. Mit drei Ausstellungen pro Jahr wird das immer ein wenig selektiv sein, aber über mehrere Jahre hinweg hoffe ich, ein ausgewogenes Bild zu schaffen.

Das aktuelle Kunstjahr der Kunsthalle Arbon wird mit der Vernissage zur Ausstellung «Seestück» von Max Leiß morgen Samstag, 17. August, um 17 Uhr fortgesetzt. Martina Venanzoni führt um 17.30 Uhr in die Ausstellung ein, in welcher der in Basel lebende Künstler sich mit der Beziehung von Mensch und Natur befasst. «Leiß hat als Vorbereitung mit dem Kanu das Bodenseeufer erkundet», erzählt Martina Venanzoni, während sie in das Kellergewölbe der Kunsthalle hinabsteigt. In diesem kühlen, dämmrigen Raum werden Filmaufnahmen von Leiß Reise gezeigt. Vor der Leinwand ist der Umriss des Holzkanus des Künstlers zu erkennen, vom Ausstellungsraum oben ist das entfernte Prasseln vom Dachgebälk zu hören.

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