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Profi-Sport zu Amateurlöhnen

Patricia Willi leitet in Zusammenarbeit mit Sandra Egger als Co-Sportchefin die Geschicke der Frauenabteilung beim FC St. Gallen. Im Gespräch mit «felix.» erzählt sie, warum sie nicht vom «Kampf» um Gleichstellung sprechen möchte, was die EM in der Schweiz bewirken könnte und weshalb sie die Vergleiche mit dem Männerfussball völlig kalt lassen.

Tobias Benz

Patricia Willi, der FC St. Gallen steckt mitten in der Saisonvorbereitung. Was ziehen Sie aus dem letzten Jahr für ein Fazit?

Das Ende der Saison war Mitte Mai, als wir im Viertelfinal der Playoffs gegen den FC Zürich ausgeschieden sind. Das war für uns zu früh, weil wir gerne weitergekommen wären und es gegen diese Gegnerinnen auch realistisch und möglich gewesen wäre. Wenn wir das Gesamtfazit der Saison ziehen, sind wir aber zufrieden. Trotz zahlreicher Ausfälle haben wir in der regulären Saison den höchsten Punkteschnitt geholt seit wir hier als Staff in dieser Konstellation und mit diesem Team tätig sein dürfen.

Apropos Konstellation: Dieses Team hat mit Marisa Wunderlin nicht nur die Trainerin, sondern auch einen klingenden Namen verloren. Wie geht es nun weiter?

Marisa Wunderlin hat während ihren vier Jahren grossartige Arbeit geleistet und beim FC St. Gallen Standards etabliert, die für uns früher fast unvorstellbar gewesen wären. Sie war die treibende Idee, brachte unglaublich viel Fachwissen und Engagement für den Frauenfussball mit und hat es geschafft, mit uns zusammen, den Staff und die Spielerinnen auf das Level zu bringen, auf dem wir jetzt sind. Das ist eine tolle Basis, um jetzt an Jasmin Schweer zu übergeben, die seit Anfang Juni bei uns im Einsatz ist und das Team mit ganz viel Engagement und neuen Ideen weiterführen wird. Sandra Egger und ich bleiben als Co-Leitung in diesem Projekt.

Eine Co-Leitung in der Chefetage – wie kam es dazu?

Sandra und ich sind damals mit einem weissen Blatt gestartet, innerhalb der Nachwuchsabteilung des FC St. Gallen. Nach einem Jahr haben wir uns getraut, zu Matthias Hüppi und Alain Sutter zu gehen und haben uns gewünscht, dass die Frauen «umpositioniert» werden und eine eigene Abteilung sein können. Das wurde vom Verwaltungsrat im März 2021 genehmigt.

… und scheint problemlos zu funktionieren.

Wir sind in diesem Projekt von Anfang an beteiligt und mittlerweile auch die beiden, die in der Liga in dieser Rolle am längsten mit dabei sind. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass eben auch vieles davon abhing, dass wir beide in dieser Co-Leitung starten durften. So konnten und können wir die Energie immer bündeln.

Die Frauen sind jetzt in den FC St. Gallen integriert. Da hat es ja schon einen Sportchef. Wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben einen komplett eigenen Staff für die Frauenéquipe. Wenn man die Anzahl Personen und das Positionsprofil betrachtet, ist das ähnlich wie bei den Männern. Roger Stilz ist unter anderem unser direkter Vorgesetzter. Was sehr gut funktioniert: Wir können von Synergien profitieren. Es findet ein grosser Austausch zwischen unseren Mitarbeitenden und jenen bei den Männern statt. Das ist sicher etwas, das in diesem Verein unglaublich gut funktioniert. Aber letztendlich machen wir genau dasselbe. Von Assistentin und Spielanalystin über den Goalietrainer, unsere zwei Physios, die Athletiktrainerin, bis hin zur Ärztin und zum Teammanagement. Das ist alles exakt dasselbe wie bei der 1. Mannschaft der Männer. Der Unterschied ist, dass dort die meisten in Vollzeit arbeiten und bei uns in Teilzeit.

Co-Sportchefin Patricia Willi im Heimstadion der FCSG-Frauen, dem Espenmoos.
Co-Sportchefin Patricia Willi im Heimstadion der FCSG-Frauen, dem Espenmoos.
© Tobias Benz

Wie sieht es bei den Spielerinnen aus?

Auch da ist der Wochenplan und der Spielrhythmus derselbe wie bei den Männern– im Training, in der Vorbereitung, bei den Spielen. Das sind vom Aufwand her alles Profi-Fussballerinnen – genau wie bei den Männerteams. Es ist einfach so, dass Spielerinnen mehrheitlich nebenbei noch 50 bis 80 Prozent arbeiten müssen.

Sie haben während Ihrer Aktivkarriere ja auch noch gearbeitet…

Ja, ich habe mich bewusst entschieden, 60 Prozent zu arbeiten und ein berufsbegleitendes Betriebswirtschaftsstudium zu machen.

Alles gleichzeitig?

Ja.

Das hört sich nach einem 150 Prozent Pensum an…

Definitiv. Diese Zeit war für mich aber bereichernd. Das ist heute bei den Spielerinnen auch noch so. Du musst entscheiden, wie du dein Leben gestaltest, um nebenbei Profi-Fussballerin sein zu können.

Wie viel verdient man denn heutzutage so als Fussballerin?

In der gesamten Schweiz herrschen grosse Unterschiede. Die Profi-Verträge beginnen bei 500 Franken pro Monat. Dann gibt es Vereine, bei denen 3000 bis 3500 Franken pro Monat ausbezahlt werden. Andere Vereine stellen Verträge bis zu 4500 Franken aus. Je nachdem wird in die Löhne aber auch mit eingerechnet, dass jemand ein Auto erhält, oder jemandem eine Wohnung zur Verfügung gestellt wird. Deshalb sind die Löhne sehr unterschiedlich. Was aber immer noch Tatsache ist im Schweizer Frauenfussball: Wir haben Spielerinnen, die Amateur-Verträge haben. Da verdient man keine 500 Franken monatlich. Das ist oft ein Spesen-Verdienst, so dass man etwas ans Benzin oder an die ÖV-Tickets erhält.

«Die Frage bei dieser Vergleichsthematik ist immer: Was willst du damit erreichen? Willst du einen Aufschrei machen? Oder willst du sagen, dass wir zu wenig gut behandelt werden?»
Patricia Willi

Wo steht da der FCSG?

Wir in St. Gallen sind so weit, dass wir seit zwei Jahren auch Profi-Verträge ausstellen können. Aktuell haben etwa zwei Drittel des Kaders solche Profi-Verträge.

Gleicher Aufwand, weniger Lohn. Macht einen das nicht wütend?

Die Frage bei dieser Vergleichsthematik ist immer: Was willst du damit erreichen? Willst du einen Aufschrei machen? Oder willst du sagen, dass wir zu wenig gut behandelt werden? Grundsätzlich ist für mich die Thematik des Vergleichs in vielen Sportarten mit einem Ergebnis verbunden, mit dem man fast nie zufrieden sein kann. Die wichtige Frage ist: Was machen wir als Verein, als Team, damit Verbesserungen stattfinden?

Und die Antwort?

Wir müssen Ideen und Lösungen kreieren, um zu mehr Wirtschaftlichkeit zu kommen, um dementsprechend dann auch weitere gezieltere Fortschritte in den Rahmenbedingungen tätigen zu können. Wir machen das schrittweise. Wir stellen sicher, dass wir sportlich besser performen können, indem wir den Spielerinnen den bestmöglichen Standard bieten. Gleichzeitig suchen wir nach Möglichkeiten und Varianten, um uns als Frauensport und als Frauenfussball wirtschaftlich etablieren und stärken zu können. 

Da würde eine höhere Medienaufmerksamkeit sicherlich helfen. Muss man auch darum kämpfen?

Ich rede nicht gerne vom Wort «kämpfen», das drückt für mich etwas Falsches aus. Der Begriff suggeriert, dass man etwas erobern oder verteidigen muss. Wir wollen ja nichts erkämpfen. Wir wollen uns positionieren und uns weiterentwickeln. Wir wollen aufzeigen, was der Frauenfussball, der Frauensport wert ist. Mir ist es bei diesem Wort nicht wohl, weil ich einen Wert und einen Weg im Frauenfussball sehe. Es geht darum, dass er noch mehr gesehen wird. Es gibt genug Beispiele, wo man erkennt, dass er funktioniert. Dass er inzwischen auch wirtschaftlich ertragreich ist. Jetzt geht es darum, dass man diese Europameisterschaft auch nutzt, um dem anhaltende Sichtbarkeit zu geben in der Schweiz. 

Was erhoffen Sie sich denn sonst noch von der Europameisterschaft?

Man weiss, dass im Frauensport nach solchen Grossanlässen anhaltende Verbesserungen stattfinden. Gleichzeitig weiss man, dass Geld gesprochen worden ist. Das fliesst unter anderem in den Nachwuchsbereich, die Infrastruktur, aber auch in den Elitefussball. Es geht deshalb nicht ums Hoffen, es geht darum, an diesem Plan dranzubleiben und dieses Geld gut zu nutzen, das einem zur Verfügung gestellt wird. Dafür braucht es ein ganzheitliches Engagieren des Verbands, der Vereine, und auch der Gesellschaft, damit man das auch dementsprechend umsetzen kann. Und es braucht einen klaren Plan, wie man das Geld, das man hat, ausgibt.

Die EM dürfte auch bei vielen jungen Mädchen den Wunsch auslösen, einmal Fussballprofi zu werden. Dabei hat man jetzt schon das Gefühl, die Nati würde von jungen Talenten regelrecht überschwemmt. Wie sehen Sie da die Entwicklung?

Es ist augenscheinlich und offensichtlich erkennbar, dass mehr junge Mädchen Fussball spielen und dass mehr junge Mädchen talentiert sind. Wir haben in den letzten Jahren sehr viel an Breite gewonnen. Gemäss Zahlen von Anfang Jahr gibt es um die 40 000 lizenzierte Fussballspielerinnen in der Schweiz. Meines Erachtens ist diese Zahl bereits wieder gestiegen. Durch diese grössere Breite entsteht in der Summe mit verbesserter Ausbildung über mehrere Jahre mehr Qualität in der Quantität. Das ist ein typisches Trichter-System, das sich im Frauenfussball seit zwei, drei Jahren unglaublich toll entwickelt. Und ich bin überzeugt, dass diese gewonnene Qualität durch die Europameisterschaft und durch all diese aktiven Tätigkeiten, die der Verband, die Regionalverbände und die Vereine machen, in den nächsten Jahren auch noch offensichtlicher wird.

«Wir wollen aufzeigen, was der Frauenfussball, der Frauensport wert ist.»
Patricia Willi

Spürt das auch die Jugendabteilung des FC St. Gallen?

Da gibt es den Unterschied zwischen dem Breitenfussball und dem Spitzenfussball. Wir sind im Spitzenfussball zuhause. Das heisst, schlussendlich kommen die besten Spielerinnen aus der Region – zum Beispiel aus dem Rheintal-Bodensee, dem Stützpunkt Thurgau, oder aus Mels und Wil – in die besten Gefässe des FCSG. Bei den Frauen-Nachwuchsteams des FC St.Gallen startet das bei der U14. Da sind wir dann in der Schmale des Trichters.

Da befinden sich heute talentiertere Spielerinnen als vor fünf Jahren?

Bereiche wie die Technik sind heutzutage offensichtlich besser – und auch das Ballgefühl. Je nachdem auch die Athletik, die ist aber schwerer erkennbar. Was auf jeden Fall klar ist: Die Spielerinnen kommen besser ausgebildet.

Wie hat dieser Hype bei den Mädchen denn angefangen?

Geholfen hat sicher, dass sich das Schweizer Nationalteam seit der WM in Kanada 2015 regelmässig für internationale Turniere qualifiziert hat. Ausgenommen von der WM 2019, als sie nicht dabei waren. Aber wenn das Nationalteam bedeutende Erfolge feiert und Teil von internationalen Turnieren ist, dann ist das meines Erachtens ein Faktor, der sicher hilft. Es ist aber nicht der alleinige, die Gründe können vielfältig sein. 

Welchen Rat geben Sie einer Juniorin heute mit auf den Weg?

Ganz wichtig ist die Freude am Fussball. Sei ehrgeizig und engagiert. Versuch aus Herausforderungen zu lernen und in jedem Training alles zu geben. Mit vielen Jahren Freude klappt das – und dann braucht es halt auch immer etwas Glück.

Als Letztes noch Ihre Tipps für die EM. Wer gewinnt?

Deutschland.

Und wie weit schafft es die Schweizer Nati?

Mindestens bis ins Viertelfinale.

EM-Spiele im St. Galler Kybunpark

Am Freitag, 4. Juli, spielen in der Gruppe C Deutschland gegen Polen im Kybunpark. Am 9. Juli trifft dort in der Gruppe D Frankreich auf Wales und am 13. Juli in derselben Gruppe Wales auf England. Die drei Spiele der Gruppenphase beginnen jeweils um 21 Uhr. Tickets gibt es auf de.uefa.com/womenseuro/ticketing.

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