Totgeglaubte leben länger
Alice Hofer«Ich absolvierte die Ausbildung zum Flugzeug-Mechaniker in der Flug- und Fahrzeugfabrik Altenrhein», erzählt Peter Glaus. «Mein Traum war es, die weite Welt zu sehen, was in diesem Beruf vielversprechend war. Doch die Sprachbarriere hinderte mich, sodass ich stattdessen den LKW-Führerschein erwarb.» Damit begannen seine Erkundigungen des Globus. Im Juni 1975 wurde er mit einer Ladung Chemikalien nach Bagdad geschickt. Die Fahrt von Basel über Ankara in die Osttürkei verlief relativ gut, abgesehen von dem türkischen Fohlen, das ihm direkt in den Wagen lief. «Ich betrachtete es zwar als übles Omen, hatte jedoch mein Ziel klar vor Augen.» Doch leider sollte sich das Omen bewahrheiten. Kurz vor der Grenze zu Irak sprang plötzlich ein Kind hinter einem Traktor hervor und wurde von Glaus’ LKW erfasst. Er hatte nicht die geringste Chance, seinen 32-Tönner abzubremsen. «Das ging alles viel zu schnell», erinnert er sich. «Die Steine der aufgebrachten Feldarbeiter flogen mir um die Ohren; einer davon traf mich voll ins Gesicht und schlug mir die Zähne aus. Ich duckte mich hinter dem Steuerrad, um den Schüssen auszuweichen.» Mit verlöcherten, teils zertrümmerten Scheiben, blutendem Mund und grossem Schrecken blieb dem Chauffeur nichts anderes übrig, als möglichst rasch den Zoll zu erreichen, um sich dort an die Militärpolizei zu wenden.
Bei Wasser und Brot beinahe tot
Die nächsten zwanzig Tage verbrachte Glaus in Cizre (Osttürkei) hinter Gittern, mit unerträglichen Zahnschmerzen und zermürbender Ungewissheit. «Endlich wurde ich vor Gericht angehört und glücklicherweise freigesprochen. Dann konnte ich gehen – mittellos und staubig – um in Ankara die Schweizerische Botschaft aufzusuchen und mich beraten zu lassen.» Dort erlebte Glaus eine sehr bizarre Episode, während er sich doch nur Zuflucht und Hilfe erhoffte: «Anstatt etwas Geld und Unterstützung gab es von Herrn Botschafter Koch lediglich grosses Erstaunen. Er fragte mich mehrmals nach Namen und Herkunft und präsentierte mir schliesslich ein Schreiben des Schweizerischen Aussendepartements, nämlich die offizielle Bescheinigung über mein Ableben.

Das war dann ebenso erstaunlich: Warum wurde nie recherchiert?» Nicht einmal der persönliche Auftritt von Peter Glaus brachte den Botschafter auf die Idee, die Todesanzeige zu dementieren oder Angehörige zu benachrichtigen. «Ich musste aus einer Telefonkabine meine Eltern anrufen, die vor lauter Kummer krank und fassungslos waren. Mein Arbeitgeber versprach zwar, Geld zu schicken, doch das dauerte damals ewig!» Glaus musste wöchentlich auf der Botschaft nachfragen und verbrachte schliesslich zwei Monate in Ankara. «Ich wohnte in einem schlichten Hotel auf Pump und ernährte mich mehr schlecht als recht.» Wenigstens vermittelte ihm der träge Botschafter einen renommierten Zahnarzt. «Dann machte mich jemand mit dem Stellvertreter des Deutschen Botschafters bekannt, welcher weitaus effizienter war als der schweizerische und mir bald ermöglichte, meinen LKW abzuholen und nach Bagdad zu fahren.» Endlich kam das Geld, die Odysee nahm ein Ende, und im November erreichte Glaus sein Zuhause in Aarburg, wo er die besorgte Familie etwas beruhigen konnte.
Ende gut, fast alles gut
Inzwischen sind fünfzig Jahre vergangen. Glaus lebt schon lange in Steinach. «Meine Nachfrage beim EDA blieb unbeantwortet», nervt sich Glaus auch heute noch. «Die Neugier über den Verbleib des Zahnarztes liess mir ebenfalls keine Ruhe», ergänzt er «und es gelang mir tatsächlich, ihn im Internet zu finden! Ich schickte ihm die alten Fotos von damals, er reagierte sehr erfreut: Auf seine Einladung hin haben wir ihn neulich besucht, er lebt unterdessen in Freiburg i.Br. und hat natürlich auch unvergessliche Erinnerungen!» Und was möchte Peter Glaus der heutigen Jugend mit auf den Weg geben? «Sicher nicht den Kopf in den Sand stecken! Niemals aufgeben, stets an sich selber glauben, und standfest auf dem Boden bleiben.»
Menschen erzählen ihre Geschichten
In der Serie «Lebenslinien» lädt «felix. die zeitung.» die ältere Leserschaft (ab 65 Jahren) zum Gespräch ein. Erzählen Sie uns Ihre Erlebnisse, Einsichten und Weisheiten. «felix.»-Reporterin Alice Hofer besucht Sie gerne in Ihrem Daheim. Die Porträts erscheinen in lockerer Reihenfolge in dieser Rubrik. Wenn auch Sie etwas aus Ihrem Nähkästchen plaudern wollen, melden Sie sich bei uns per Mail an hofer@mediarbon.ch oder telefonisch 071 440 18 30.