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«Unsere älteste Tanzschülerin ist 91»

Im August übernahm Elena Graf die kreative Leitung der «Tanzwerkstatt» in der Musikschule Arbon von ihrer ehemaligen Tanz-Lehrerin Zuzana Vanecek. Mit «felix.» sprechen sie über verhaltensauffällige Kinder und weshalb die Ostschweiz sich nicht selbst abhängen darf.

Laura Gansner

Zuzana Vanecek, Sie haben im August nach 28 Jahren die «Tanzwerkstatt» in die Hände von Elena Graf übergeben. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Zuzana Vanecek: Das war eine ganz natürliche Entwicklung. Ich habe jahrelang all meine Energie in dieses Projekt gesteckt. In den Anfangszeiten, habe ich teilweise 42 Stunden pro Woche unterrichtet. Das muss und kann ich heute nicht mehr. Ich werde schliesslich auch nicht jünger (lacht). Deshalb ist es jetzt an der Zeit loszulassen. Ich bin aber nicht komplett weg, ich werde weiterhin im administrativen Bereich tätig sein und einzelne Kurse unterrichten. 

Fällt Ihnen das Loslassen schwer?

Vanecek: Nein, ich kann aber meine Verantwortung beruhigt abgeben, denn ich weiss, bei Elena ist die «Tanzwerkstatt» in guten Händen. Sie ist hier selbst als Tanzschülerin ein und aus gegangen, kennt die Kultur, die hier vorherrscht.

Was macht diese Kultur in der «Tanzwerkstatt» aus?

Vanecek: Bei mir wurde Inklusion stets gross geschrieben. Jede und jeder sollte in der «Tanzwerkstatt» Raum zum Tanzen haben. Denn Tanz ist für alle da.

Elena Graf, wird sich denn mit Ihrer Übernahme der «Tanzwerkstatt» etwas ändern?

Elena Graf: Ich werde die «Tanzwerkstatt» sicher auf meine eigene Art und Weise weiterführen, aber um ehrlich zu sein: Nein, nicht viel. Bisher hat es gut funktioniert so, die Tanzschülerinnen- und schüler kommen nach wie vor gerne und zahlreich. Ich möchte das Ganze mit denselben Werten weiterführen, wie es Zuzana bisher getan hat. Diese haben mich selbst, wie auch viele meiner Tanzkolleginnen und –kollegen einst fürs Tanzen begeistert. So haben zum Beispiel rund die Hälfte aller Tanzlehrpersonen der «Tanzwerkstatt» bei Zuzana tanzen gelehrt. Dass sie heute alle noch oder wieder hier sind, spricht für sich.

Sie haben in Zürich Tanz studiert, Ihnen sind nach dieser Ausbildung die Türen zur grossen Tanz-Welt offen gestanden. Sie haben sich aber entschieden, nach Arbon zurückzukommen. Weshalb?

Graf: Mir war es ein Anliegen, mein erlerntes Wissen hierhin zurückzubringen. Gerade unter uns Kunstschaffenden herrscht oft die Tendenz, nicht mehr dorthin zurückzukehren, wo man herkommt, weil es scheinbar zu wenig Möglichkeiten gibt, sich auszuleben. Ich bin aber der Ansicht, dass wir uns, gerade in der Ostschweiz, mit dieser Ansicht selbst keine Chance geben, weiter zu kommen. Denn wie sollen wir eine Weiterentwicklung erwarten, wenn wir selbst nicht hier investieren?

In Ihrem Fall können Sie von der jahrelangen Aufbauarbeit von Zuzana Vanecek profitieren. Aber was ist, wenn man eine solche Möglichkeit nicht hat?

Graf: Wenn es hier noch nicht gibt, was man sich wünscht, dann müssen wir es aufbauen. Wir können uns nicht nur darüber beschweren, dass die Ostschweiz scheinbar so «hinterher hinkt» und ihr dann selbst den Rücken zukehren. Genau das hat ja Zuzana gemacht und hat Arbon damit über seine Grenzen hinaus für das Angebot der «Tanzwerkstatt» bekannt gemacht.

Wenn die Schülerin zur Lehrerin wird: Elena Graf (rechts) und Zuzana Vanecek.

Was unterscheidet die «Tanzwerkstatt» von anderen Tanz-
Institutionen?

Graf: Bei Zuzana stand stets die Freude an der Bewegung an erster Stelle. Sie fordert uns auch heraus und wollte, dass wir alles geben, aber hat uns das nie mit Druck vermittelt. Als ich dann für mein Studium nach Zürich ging, war ich überrascht von der anderen Atmosphäre in den Tanzklassen. Hier in Arbon herrschte stets ein familiäres Miteinander und plötzlich fand ich mich in Gruppen wieder, in welchen der Konkurenz-Gedanke über der Gemeinschaft. Es ist schön, mit der «Tanzwerkstatt» einen Ort zu haben, an dem das nicht so ist.

Vanecek: (nickt zustimmend) Bei uns ist das Tanzen wertefrei, ohne Druck. 

Tanzen ist eine von vielen möglichen Sportarten, die man ausüben kann. Was kann Tanzen, was andere Bewegungsformen nicht können?

Vanecek: Tanzen ist eine Lebensschule. Durch die Gruppendynamiken der Klassen und die Beschäftigung mit dem eigenen Körper kann man so viel über sich selbst lernen, ohne dabei ständig bewertet und benotet zu werden. Und Tanzen ist gut finanzierbar, schliesslich braucht man dafür keine Ausrüstung, man braucht nur sich selbst. Zudem wird die«Tanzwerstatt» vom Kanton subventioniert, da sie in die Musikschuel Arbon integriert ist.

Graf: Für mich spielt die Musik eine Schlüsselrolle. Beim Tanzen kann man sich ganz in diese hineingeben, kann alle Energie hinauslassen. Das ist ein super Ventil. Ich war zum Beispiel ein Kind mit wahnsinnig viel Energie. Beim Tanzen konnte ich diese ablassen, was mich wie auch meine Eltern glücklich machte (lacht).

Aus den Schulen hört man vermehrt, dass der Anteil der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten zunimmt. Kann der Tanz hier zur Lösung des Problems beitragen?

Vanecek: Definitiv. Beim Tanzen können sich die Kinder und Jugendlichen anders ausleben, jemand anderes, oder eher, mehr sich selbst werden. Mir ist es beispielsweise schon mehr als einmal passiert, dass ich Anrufe von Lehrerinnen erhalten habe, die sich nach meinem Umgang mit einem «Problemkind» erkundet haben, welches bei mir tanzte. Ich hatte aber bis zu diesem Anruf keine Ahnung, dass diese Kinder sich in der Schule auffällig verhielten. In den Räumen der «Tanzwerkstatt» war nichts davon zu spüren, im Gegenteil.

Graf: Ich glaube, das liegt daran, dass die Kinder durch das Tanzen ein Selbstbewusstsein erlangen, welches ihnen an anderen Orten fehlt. Gerade durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe erhalten sie Sicherheit. Man ist dann nicht mehr nur auf sich alleine gestellt, sondern Teil von etwas Grösserem. Aus-
serdem ist man beim Tanzen ständig mit sich selbst konfrontiert. Nie musste ich mich mehr mit mir selbst beschäftigen als während meiner Tanz-Ausbildung. Dadurch bekommt man ein starkes Gefühl für sich selbst, wer man ist und wie man sein möchte.

Tanzen hat also nicht nur mit dem körperlichen, sondern auch dem geistigen Wohlbefinden zu tun.

Vanecek: Es beeinflusst auf jeden Fall unsere Psyche, kann einen aufrichten. Das kann ich immer wieder an der Körpersprache meiner Tanzschülerinnen und –schülern ablesen.

Graf: Wenn man ein durchs Tanzen geprägtes Körpergefühl hat, bekommt man einen geschärften Blick für die Körpersprache seiner Mitmenschen. 

Vanecek: Unsere Psyche spricht durch unseren Körper. Ich glaube dieses Bewusstsein, welches im Tanz bereits stark vorhanden ist, wird in unserer Gesellschaft wieder mehr Gewicht erhalten. Ich hoffe auf eine Bewegung weg vom Digitalen, hin zu diesem Bedürfnis nach Bewegung, die uns mit uns selbst verbindet. Der Tanz kann das besonders gut, weil in ihm etwas ganz Ursprüngliches liegt, was mit unserem ersten Herzschlag beginnt, diesem ersten Rhythmus, der durch unseren Körper fliesst.

Sie haben beide diese Verbindung von Körper und Psyche betont. Unsere Gesellschaft ist jedoch nach wie vor stark davon geprägt, diese zwei Bereiche getrennt zu betrachten. Wie gelingt es, diese Trennung zu überwinden und den Ausdruck in die Bewegung hinein zu bringen?

Graf: Das ist schwierig zu benennen.

Vanecek: (nickt) Ich glaube, ein grosser Teil davon macht die Musik. Sie lässt alles ineinander fliessen.

Graf: Und das sogenannte Muskelgedächtnis hilft. Wenn man einen neuen Tanzschritt lernt, ist man zu Beginn noch auf die technische Ausführung konzentriert und braucht die gesamte Aufmerksamkeit dafür. Doch je öfter man diesen wiederholt, desto leichter erinnert sich der Körper an die einzelnen Schritte. Das ist wie beim Velofahren, irgendwann geht es ganz automatisch. Ist man dann an diesem Punkt angelangt, kommt der Ausdruck schon fast von alleine hinzu. Man kann sich ganz in der Bewegung verlieren.

Vanecek: Diese Momente machen regelrecht süchtig. Deshalb sage ich immer: «Einmal tanzen, immer tanzen».

Ist man eigentlich je zu alt um mit dem Tanzen zu beginnen?

Vanecek und Graf: (gleichzeitig) Nein.

Vanecek: Also professionelle Ballettänzerin wird man jetzt mit 25 nicht mehr, aber darum geht es ja auch nicht. Unsere älteste Tanzschülerin ist 91 Jahre alt und sie bewegt sich mit einer Leichtfüssigkeit, die einen staunen lässt. Das Tanzen ist ausserdem, gerade im Alter, eine gute Gesundheitsprävention, weshalb wir in der «Tanzwerkstatt» auch Rücken- und Gesundheitsgymnastik anbieten. 

Graf: Am Ende geht es immer um den Spass an der Bewegung und den kann man in jedem Alter entdecken.

Zuzana Vancek wird weiterhin an der «Tanzwerkstatt» Musikschule Arbon einzelne Kurse unterrichten, während Elena Graf sie in ihrer Rolle als kreative Leitung abgelöst hat.

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