«Unsere Kirche ist sehr lebendig»
Andrea Vonlanthen
Wann haben Sie Ihre Kirche zum ersten Mal bewusst erlebt?
Karin Brand: Schon als Kind in der Sonntagsschule und später in der Jugendgruppe.
Martin Ballat: Im Kommunionsunterricht. Ich bin katholisch getauft. Mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich. Damit die Kommunion nicht zu teuer wurde, konnten meine Eltern die beiden Kommunionen zusammenlegen. Ich war damals sechs Jahre alt. Vor etwa 15 Jahren bin ich zur evangelischen Kirche konvertiert. Ein intensives Gespräch mit dem damaligen Pfarrer Bruno Wiher hat dazu geführt, dass die Beschäftigung mit dem Glauben wieder wichtig geworden ist für mich.
Ist die Führung einer evangelischen Kirchgemeinde heute so schwierig, dass es ein Co-Präsidium braucht?
Brand: Das hat in erster Linie mit dem Pensum dieser Aufgabe zu tun. Bei uns sind das etwa 30 Prozent. Das kann man nicht neben einem Job bewältigen. Wir schätzen es sehr, dass wir unsere Gemeinde gemeinsam leiten können.
Doch ein Co-Präsidium ist nach kantonalem Kirchenrecht gar nicht möglich.
Ballat: Das ist so, aber es ist doch möglich. Die kantonale Kirche unterstützt uns in unserem Vorgehen. Wir sind auch nicht die erste Kirchgemeinde im Thurgau mit Co-Präsidium. Ich gehe davon aus, dass das Kirchenrecht irgendwann angepasst wird.
Sie führen ein Co-Präsidium, doch Sie, Frau Brand, sind offiziell als Präsidentin gewählt. Haben Sie das letzte Wort?
Brand: (lacht) Wir sind eine sehr kollegiale Behörde. Ich habe es noch nie erlebt, dass es einen Stichentscheid gebraucht hätte. Wir suchen gemeinsam nach Lösungen.
Ballat: Wir wollen einfach Lösungen finden. Ich empfinde es nicht so, dass Frau Brand das letzte Wort hat. Dass sie als gewählte Präsidentin gilt, ist nur dem Kirchenrecht geschuldet.
Gibt es an den Sitzungen Ihrer Vorsteherschaft auch Momente, in denen nur noch Beten hilft?
Ballat: Beten ist für mich eine sehr persönliche Sache. Probleme löst man, indem man sie gemeinsam angeht. Beten kann in gewissen Situationen eine Hilfe sein, aber nicht bei der Lösung von Problemen.
Brand: Ich bete zu Hause, und da auch mal für unsere Arbeit, aber nicht während den Sitzungen.
Sie haben im letzten Jahr den Präsidenten, den Messmer und zuletzt das Pfarrerehepaar nach weniger als drei Amtsjahren verloren. Hängen diese Abgänge irgendwie zusammen?
Brand: Die Abgänge haben ganz individuelle Gründe. Robert Schwarzer wollte sich mehr der Leitung der Sekundarschulgemeinde widmen. Unser Messmer-Ehepaar hat sich beruflich neu orientiert. Und das Ehepaar Gäumann hat gemerkt, dass ihm das Einzelpfarramt mehr liegt als ein Teampfarramt.
Jetzt suchen Sie also neues Pfarrpersonal, und zwar mit externer Hilfe. Wäre Ihre Behörde mit dieser Aufgabe überfordert?
Ballat: Pfarrer und Pfarrerinnen gibt es nicht wie Sand am Meer. Das Angebot ist relativ gering. Wir haben die externe Hilfe gewählt, um gemeinsam unsere Bedürfnisse festzustellen und zu schauen, wer am besten zu uns passt. Und wir müssen ja auch zu einer Pfarrperson passen. Bei der externen Begleitung handelt es sich um Stefan Wohnlich von der Beratungsfirma Inori.
Brand: Wir haben eine Bedarfsanalyse gemacht, um festzustellen, wo wir die Schwerpunkte legen müssen. Wir suchen zwei neue Pfarrpersonen mit einem Pensum von zusammen 120 Stellenprozenten. Pfarrer Harald Ratheiser hat das Ressort «Senioren». Jetzt suchen wir jemanden für das Ressort «Kind und Familie» und jemanden für das Ressort «Erwachsene».
Wo suchen Sie genau?
Brand: Die Ausschreibung ist gerade online gegangen. Wir suchen im reformierten Magazin «Bref», in den sozialen Medien, unter den Vikarinnen und Vikaren und auch unter den theologischen Quereinsteigern. Wir wünschen uns, dass wir die neuen Pfarrpersonen spätestens Ende Jahr gefunden haben.
Im Gegensatz zur katholischen Kirche und zu den Freikirchen in Arbon schrumpft ihre Kirchgemeinde massiv, von 5500 auf 3200 Mitglieder in 30 Jahren. Ihre Erklärung?
Brand: Ob die Freikirchen in Arbon wachsen, weiss ich nicht. Die negative Entwicklung sehen wir in der ganzen Schweiz. In Arbon kommt die Bevölkerungsstruktur dazu. Es gibt auch ein Ungleichgewicht zwischen Todesfällen und Geburten. Und dann gibt es die, die sich bewusst von der Kirche abwenden. Das schmerzt uns jedes Mal. Es ist doch schade, dass viele Leute nicht sehen, was die Kirche auch gesamtgesellschaftlich leistet.
Wo sehen Sie den zentralen Auftrag Ihrer Kirchgemeinde?
Ballat: Unsere erste Aufgabe ist die Verkündigung des Evangeliums, das ist klar. Doch wichtig sind auch die Menschen im Allgemeinen und unsere Kirchbürger im Besonderen. Unsere Kirche soll ihnen eine Heimstätte sein, wo sie gut aufgehoben sind und auch spirituell und geistlich etwas abholen können.
Brand: Wir wollen den christlichen Glauben zeitgemäss zum Ausdruck bringen und leben.
Was ist an Ihrer Kirchgemeinde noch «evangelisch»?
Brand: Das ist die biblische Botschaft von der Liebe Gottes. Das heisst, mit Herz und Verstand in einer persönlichen Beziehung zu Gott stehen und den christlichen Alltag leben.
Regierungsrat Dominik Diezi, ein aktiver Arboner Kirchgänger, sagte kürzlich in einem Interview: «Die Kirche muss vom Missionsgebot her immer missionarisch sein.» Ist Ihre Kirchgemeinde missionarisch?
Ballat: Der Begriff «missionarisch» ist von der Kirchengeschichte her eher negativ besetzt. Doch auf eine gewisse Art versuchen auch wir zu missionieren, und zwar auf eine menschenachtende und empathische Weise. Wir möchten dem Trend des Verlustes von Gemeindemitgliedern natürlich entgegenwirken. Ein Teil unserer Angebote hat darum auch missionarischen Charakter.
Andere Kirchgemeinden führen Glaubenskurse durch, auch die katholische Kirche in Arbon. Kennen auch Sie Kurse dieser Art?
Brand: Das machen wir nicht. Für uns ist der Glaube kein Lehrfach. Doch wir führen zum Beispiel Bibelgespräche durch.
Ballat: Glauben ist keine Mathematik, das kann man nicht lernen. Man kann nur versuchen, junge Leute an das Gottvertrauen heranzuführen.
Wäre es für Sie denkbar, einen Glaubenskurs zusammen mit der katholischen Kirche anzubieten?
Brand: So viel ich weiss, war das nie ein Thema. Doch die ökumenische Zusammenarbeit findet statt. Das müsste einmal diskutiert werden. Doch das wäre auch Sache unseres Pfarrteams.
Wie könnte das Interesse am Glauben sonst geweckt werden?
Brand: Schon mit dem Verbreiten unserer christlichen Lehre. Doch man kann in unserer individualisierten Welt niemanden zwingen, an Gott zu glauben. Glauben heisst Vertrauen. Das muss man vorleben, um Interesse zu wecken.
Früher gabs die Sonntagsschule, die Sie selber erlebt haben, Frau Brand. Wie werden Kinder heute an den Glauben herangeführt?
Brand: Wir haben viele Angebote für Kinder. Das fängt bei der Mini-Kirche für die ganz Kleinen an. Dann gibt es die monatliche Kinderkirche, den Religionsunterricht, den Jugendtreff, den Jugendgottesdienst, die Morgenbesinnung für die Schüler, das Herbstlager unseres Jugendarbeiters …
Im aktuellen Thurgauer «Kirchenboten» heisst es: «Wo junge Menschen in Kirchen unterstützt und gefördert werden, entstehen lebendige Gemeinden.» Wie «lebendig» ist Ihre Gemeinde?
Ballat: Unsere Kirche ist sehr lebendig! Wenn ich über den Tag schaue, mit wie vielen Dingen wir beide zu tun haben, dann bin ich manchmal erstaunt über die Vielfältigkeit unserer Angebote und die Komplexität unserer Aufgaben.
Aber Vielfältigkeit und Lebendigkeit sind nicht unbedingt das gleiche.
Ballat: Absolut. Doch wir sind in jedem Bereich eine lebendige Gemeinde. Wir haben seit gut zehn Jahren auch einen Jugendarbeiter, der sehr aktiv ist. Wir haben eine sehr stabile Gruppe von jungen Erwachsenen.
Brand: Lebendig ist eine Kirchgemeinde dort, wo Menschen zusammenkommen und Gemeinschaft leben.
Zum 100-jährigen Bestehen der Berglikirche in diesem Jahr schenken Sie sich einen Rebberg. Wie kommen Sie dazu?
Ballat: Die Initiative kam vom Agrarunternehmer Ruedi Daepp. Ein Rebberg, Wein und die Kirche: Da gab es schon immer eine Verbindung. So werden wir hoffentlich 2027/28 unseren eigenen Wein an unsere Kirchbürger ausschenken können.
Wie feiern Sie Ihr Jubiläum sonst?
Brand: Wir wollen das 100-jährige Bestehen unserer Kirche vom 6. bis 8. September feiern. Am Freitag gibt es die Vorstellung der Festschrift, am Samstag einen Tag der Familie mit einem Konzert von Andrew Bond und am Sonntag einen Festgottesdienst. Und den Abschluss feiern wir am 3. November, dem Reformationstag, mit einem Konzert.
Wir stehen vor Ostern. Warum raten Sie, gerade an Ostern in die Berglikirche zu kommen?
Ballat: Eigentlich raten wir den Menschen, jeden Sonntag in die Kirche zu kommen. Doch Ostern ist ein besonderes Fest. Das sollte man darum gemeinsam feiern.
Brand: Ein Gottesdienst gerade an Ostern, in dem das Leben und die Zuversicht im Zentrum stehen, kann einem sehr viel Kraft geben für das eigene Leben.