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Von wegen graue Eminenz

Ist Kirche heute noch zeitgemäss? Und welche Relevanz hat sie in der heutigen Instant-Gesellschaft? Diese und weitere Fragen erörtert Pfarrer Harry Ratheiser und blickt auf 100 Jahre Bergli-Kirche zurück.

Kim Berenice Geser

Harry Ratheiser, die Bergli-Kirche hat bereits ein Jahrhundert auf dem Buckel ...

... und ich durfte einen Fünftel der Geschichte dieses Gebäudes miterleben. Unglaublich.

Solche Meilensteine animieren stets dazu, einen Blick zurückzuwerfen. Wo sehen Sie die drei grössten Unterschiede zwischen der evangelischen Kirche Arbon zu ihren Gründungszeiten und der von heute?

In der Fragmentierung, dem Bild des Pfarrers und der Stellung der Kirche im Allgemeinen.

Lassen Sie uns das vertiefen. Was meinen Sie mit Fragmentierung?

Vor 100 Jahren stand der Sonntagsgottesdienst mit der Predigt des Pfarrers im Zentrum der kirchlichen Arbeit. Heute ist unser Angebot viel breiter, weil wir möglichst alle Bevölkerungsgruppen erreichen möchten. Angebote für Kinder, Jugendliche, Senioren, dazu frauen- und männerspezifische Angebote, Yoga, «wine & dine», Adventsmarkt. Das macht das kirchliche Leben vielfältiger, ist handkehrum aber auch aufwändiger, weil es mehr zu organisieren und koordinieren gibt.

«Ich sehe mich heute als normaler Bürger mit einem nicht ganz so normalen Beruf.»
Harry Ratheiser

Und der Pfarrer ist längst nicht mehr die Autoritätsperson, die er mal war.

Richtig. Er ist nicht mehr die graue, unantastbare Eminenz, wie das früher der Fall war. Und das ist auch gut so. Ich sehe mich heute als normaler Bürger mit einem nicht ganz so normalen Beruf. 

Würden Sie sagen, dass die veränderte Rolle des Pfarrers sinnbildlich auch für den abnehmenden Stellenwert der Kirche in der Gesellschaft steht? 

Die Frage ist, sprechen wir hier von Kirche oder von Spiritualität. Denn spannend ist, dass die Spiritualität in der Gesellschaft seit den 1990er-Jahren stetig zunimmt; die offizielle Kirche von diesem Trend aber nicht profitiert. 

Dafür die Freikirchen?

Nein auch die Freikirchen verbuchen keinen Zuwachs. Was wächst, sind sogenannte Show- und Eventkirchen wie die ICF. Sie vertreten bisweilen höchst fundamentalistische und rigide Haltungen, wie beispielsweise die Ablehnung von Homosexualität. Das finde ich bedenklich.

Zum 100-Jahr-Jubiläum schenkte sich die evangelische Kirchgemeinde Arbon einen eigenen Rebberg. Ein Angebot, das für Pfarrer Harry Ratheiser stellvertretend für die vielfältig gelebte Kirche von heute steht: «Im Rebberg arbeiten Menschen mit, die man im Gottesdienst nie sieht.»
Zum 100-Jahr-Jubiläum schenkte sich die evangelische Kirchgemeinde Arbon einen eigenen Rebberg. Ein Angebot, das für Pfarrer Harry Ratheiser stellvertretend für die vielfältig gelebte Kirche von heute steht: «Im Rebberg arbeiten Menschen mit, die man im Gottesdienst nie sieht.»
© Kim Berenice Geser

Zurück zur Ausgangsfrage: Der Stellenwert der Spiritualität nimmt zu, jener der Kirche ab. Heisst das, Kirche ist heute nicht mehr zeitgemäss? 

Gegenfrage: Muss sie das sein? Muss sie zeitgemäss und originell sein? Zeitgemäss sicher. Aber die Kirche muss nicht krampfhaft originell sein, sondern auf das Original hinweisen. Nur versteinern darf sie nicht.

Und wie gelingt ihr das?

Indem wir aktuelle Fragestellungen aufgreifen, aber auch solche, mit denen sich die Menschen im Alltag zeitbedingt oft nur wenig auseinandersetzen können. 

Zum Beispiel?

Es sind die bekannten vier Fragen, die schon der Philosoph Immanuel Kant ins Zentrum stellte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Als Kirche bringen wir Gott und Mensch miteinander ins Gespräch. Betonen wir nur den Menschen, betreiben wir Philosophie. Reden wir nur von Gott, driften wir in kalte Dogmatik ab. Die St. Galler-
Kirche bringt es in ihrem Slogan treffend auf den Punkt: «nahe bei Gott – nahe bei den Menschen».

«Kirche muss auch neben den Gottesdiensten Berührungspunkte schaffen und die Leute in ihrer Lebensrealität abholen.»
Harry Ratheiser

Kirche hat also weiterhin Relevanz?

Auf jeden Fall. Die Jugendpsychiatrien sind heute völlig überlastet. Viele junge Menschen kommen mit sich und dem Leben nicht mehr klar. In unserer Instant-Gesellschaft muss alles «cool» und «geil» sein. Für eine gesunde Resilienz fehlt vielen die Rückbindung an etwas, das mehr ist, als sie selbst. 

Wenn Kirche das bieten kann, warum verliert sie dennoch Mitglieder?

Weil sie zu lange nicht gemerkt hat, dass sie an den Leuten vorbeiredet. Kirche muss auch neben den Gottesdiensten Berührungspunkte schaffen und die Leute in ihrer Lebensrealität abholen. Dass das wichtig und gefragt ist, zeigt der Zulauf bei unseren Angeboten wie der «Weiberwirtschaft», «mann trifft sich, »wine and dine» oder auch den Yoga-Stunden, die immer alle sehr gut besucht sind. Kirche soll da sein, wo die Menschen sind. Und sie darf auch fröhlich sein, es darf gelacht werden. Das ist noch so ein Unterschied zu früher.

Dass man heute lachen darf?

Dass Gott nicht mehr als Drohfigur und Strafinstanz dargestellt wird. Dieses Bild hält sich leider hartnäckig in den Köpfen. Kein Wunder, ist das für viele ein «Ablöscher». 

Es gilt also, die ursprüngliche Botschaft zeitgemässer zu transportieren. Da hilft es sicher, dass mit dem 30-jährigen Michael Röll ein junger Pfarrer gefunden wurde. 

Dass Arbon nach zwanzig Jahren wieder einen jungen Pfarrer erhält, freut mich riesig, denn ich war der letzte (lacht). Ich bin gespannt, mit welchen Ideen er sich einbringen wird. Letzten Sonntag konnte er schon erleben: Wir sind offen, aufgestellt, gleichzeitig mit Tiefgang – kurz gesagt: einfach eine tolle Kirche!

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