«Wir lernen nichts dazu»
Diana Sonja Tobler
Sie sind 81 Jahre alt, aber dennoch immer ausgebucht. Wie bewältigen Sie so einen dichten Kalender?
Heidi Maria Glössner: Ich habe seit einigen Jahren angefangen, wirklich eines nach dem andern zu tun. Es muss etwas geboren werden, eine Premiere durch sein. Erst dann beginne ich, mich ums nächste Projekt zu kümmern. Natürlich spukt es nach einer Anfrage schon im Kopf herum. Aber ich beschäftige mich nicht konkret, nicht intensiv mit Neuem. Weil ich trotz meinem hohen Alter noch so viel zu tun habe, liegt sonst manchmal ein hoher Druck auf mir. Wenn ich mich selbst dazu bringe, ruhig zu sein, geht es gut.
Sie arbeiten sonst szenisch, als Teil einer Geschichte. Wie geht das hier mit einzelnen Liedern?
Man ist als Schauspielerin Teil eines Ganzen. Leo Gschwend hat Lieder ausgewählt, die heiter, sommerlich und schön sein sollen. Der Abend sollte kein belastender sein. Und doch: «Lili Marlen» oder «Sag mir wo die Blumen sind» sind ernste Lieder, Kriegslieder. Es ist zwar keine thematische Geschichte, aber es zeigt, wie auch diese Lieder in einen Unterhaltungsabend eingebettet sein können. Für mich ist es immer ein Geschenk, mit Musikern arbeiten zu dürfen. Musik mitgestalten zu dürfen.
Ist es Eskapismus?
Wenn man Eskapismus negativ versteht, dann ist es das nicht. Man darf sich auch einen Abend freuen und geniessen, das gehört zum Leben und ist keine Flucht. Man sollte dankbar sein, dass man etwas Schönes erleben kann, auch wenn die Welt einen vielleicht oft verzweifeln lässt. Marlene Dietrichs Lieder haben immer eine starke Aussage, ja es geht oft fast mehr um den Inhalt als um die Musik an sich, zumindest bei den ernsten Liedern. Das Spezielle für mich ist, dass ich diese Lieder noch nie mit einem grossen Orchester gesungen habe. Ich hoffe, wir können gemeinsam die Botschaft dahinter überbringen.
Leo Gschwend hat Ihre Telefonnummer nachgeschaut und schwupp, war das Projekt vereinbart. Wie erreichbar muss man nach jahrzehntelanger, erfolgreicher Bühnenkarriere und vielen Medienanfragen noch sein?
Man ist natürlich mit Mails, via Handy und Festnetz eigentlich immer erreichbar, denn ich verbarrikadiere mich nicht. Meine Nummer steht im Telefonbuch, ich habe noch nie etwas Besonderes aus mir gemacht. Ich muss keine Reklame für mich machen und brauchte nie einen Agenten, weil ich immer genug schöne Aufgaben hatte. Aber ich muss mich nicht verstecken, weil ich ja die Freiheit habe, nein zu sagen. Ich bekomme viele Anfragen für gute Dinge, aber ich kann nicht alles annehmen und muss dann oft schweren Herzens absagen. Das musste ich lernen, weil ich sonst überlastet wäre.
Da hatten wir in Arbon aber Glück, dass Sie zugesagt haben …
Die Anfrage kam sehr früh, zwei Jahre im Voraus. Ich sagte «ja – wenn ich da noch lebe.» Das Theaterstück «Marlene», das aus einem Erzähl- und einem Konzertteil besteht, habe ich weit über 200 Mal im In- und Ausland gespielt. Es basiert auf Marlenes Konzert von 1962 im Olympia in Paris. Diese Lieder mal mit Orchester zu singen, war schon eine tolle Vorstellung.
Die Lieder von Marlene Dietrich waren wohl in Ihrer Jugend hoch im Kurs. Viele Themen treffen heute noch die Anliegen und Sorgen der Menschen. Wiederholt sich Geschichte oder sind es nur die Emotionen dahinter?
Das erste ihrer Lieder, an das ich mich erinnern kann, ist «Lili Marlen». Daran kann ich Ereignisse knüpfen. Offensichtlich wiederholt sich die Geschichte. Anscheinend ist die Menschheit nicht dazu geschaffen, in Frieden miteinander zu leben. Es ist entsetzlich. Für mich war ein Wiederaufflammen von Krieg unerwartet, vor allem so nahe bei uns. Wir lernen nichts dazu. Da darf man sich auch in schöne Gefühle flüchten, um nicht depressiv zu werden und sich nicht allzu ohnmächtig zu fühlen. Man kann nur schauen, dass man selbst mit denen um sich herum in Frieden lebt. Marlene Dietrich hat so viel über den Krieg geredet, weil sie im 1. Weltkrieg Teenagerin war und im 2. mit Soldaten herumgezogen ist und Konzerte für sie gegeben hat. Auch sie brauchten das Schöne an der Musik: Für den Moment erfüllt sein. Sonst gehen wir alle ein.
Die Sommerkonzerte in neuer Umgebung
«Sag mir, wo die Blumen sind» ist der Titel der diesjährigen Sommerkonzert-Reihe des Sinfonischen Orchesters Arbon. Diese findet vom 15. bis 17. August statt – aufgrund der Bauarbeiten am Schlossturm und der Suche nach einer neuen Openair-Lokalität erstmals auf dem Areal des Eberle Werkhofs in Arbon. Unter der Leitung von Leo Gschwend werden unter anderem Werke von Tschaikowski, Holländer, Brel, Strauss, Schostakowitsch, Schultze, Seger und Stolz gespielt. Als Solistin singt Heidi Maria Glössner Lieder von Marlene Dietrich. Tickets gibt es im Vorverkauf auf orchesterarbon.ch. Vor und nach den Vorstellungen steht für die Konzertbesuchenden ein kostenloser Shuttlebus zur Verfügung. Dieser fährt um 19.15 und um 20 Uhr vom Busbahnhof Arbon zum Eberle-Areal und um 23 Uhr wieder zurück.