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«Wir wollen kein Freilichtmuseum sein»

Im Zuge der Neuausrichtung der kantonalen Denkmalpflege des Kantons Thurgau ist der Kunst- und Architekturhistoriker Michael Hanak im Bezirk Arbon im Einsatz, um das Inventar zu überarbeiten. Im Interview erzählt er von seiner Entdeckung des Architekten Plinio Haas und wie der Denkmalschutz mehr sein will als bloss ein Hindernis für Liegenschaftsbesitzende.

Laura Gansner

Michael Hanak, ab welchem Zeitpunkt ist ein Bauobjekt interessant für den Denkmalschutz?

Ganz grundsätzlich gilt, dass mindestens eine Generation zwischen der Gegenwart und dem Bau des Objekts liegen muss, damit eine historische Beurteilung gemacht werden kann. Wir gehen deshalb in der aktuellen Beurteilung zurück bis ins Jahr 2000. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Bauten dann in eine Phase kommen, in der die ersten Sanierungen anstehen und eine Entscheidung für oder gegen die Schutzwürdigkeit fallen muss.

Nach dem Motto «Weniger ist mehr» wird zur Zeit im ganzen Kanton das Hinweisinventar Bauten (HWI) überarbeitet. Nach welchen Kriterien werden Objekte in das neue Inventar der erhaltenswerten und geschützten Objekte (IDEGO) aufgenommen?

Es gibt drei grundlegende Kriterien, die auf jedes einzelne Objekt angewendet werden. Das erste Kriterium bezieht sich auf den Ort, sprich das Gebäude im ortsbaulichen Kontext seiner Umgebung. Das zweite bezieht sich auf die baukünstlerischen Aspekte. Wie ist das Gebäude gestaltet? Gibt es eine spezielle Gebäudetypologie, durch welche sich das Gebäude auf architektonischer Ebene auszeichnet? Dann gibt es zuletzt noch die historischen Kriterien, wobei Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Vordergrund stehen. Steht eine bedeutende Person oder ein wichtiges Unternehmen mit dem Gebäude in Verbindung? Hat das Objekt eine grosse Bedeutung für das Leben in der Ortschaft? Bei der Anwendung dieser Kriterien gibt es am Ende natürlich nicht nur Ja und Nein, sondern Abstufungen und Nuancen.

Wird ein Objekt ins IDEGO aufgenommen, was bedeutet das konkret?

In erster Linie heisst das: Es ist auf dem Radar der Denkmalpflege. Erst wenn zu einem späteren Zeitpunkt eine Baueingabe für bauliche Veränderung eingeht, wird das Objekt nochmal detailliert angeschaut. Dann wird konkret entschieden, wie weit der Schutz des Gebäudes oder einzelner Gebäudeteile gehen soll.

«Natürlich hat in Arbon beispielsweise alles, was mit der Geschichte der Saurer AG zu tun hat, schweizweite Ausstrahlung.»
Michael Hanak

Neu wird im IDEGO nach einer raumbezogenen Einstufung eingeteilt, sprich danach, ob ein Inventarobjekt von nationaler, kantonaler oder kommunaler Bedeutung ist. Weshalb hat sich der Denkmalschutz für diese Art der Unterscheidung entschieden?

Man ist von der Abstufung der Bedeutung der Schutzwürdigkeit zu dieser neuen Einteilung gekommen, um unter anderem die Zuständigkeit für die Objekte klar zu definieren. Für Bauten mit kommunaler Bedeutung wird durch das Inkrafttreten des IDEGO die Gemeinde zuständig sein, für jene mit kantonaler und nationaler Bedeutung der Kanton.

Welche Objekte mit nationaler Bedeutung sind im Bezirk Arbon auszumachen?

Das lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Ich habe zwar fast das gesamte Inventar im Bezirk bearbeitet, aber in einem nächsten Schritt wird meine Einschätzung in einer Inventarkommission diskutiert. Dann erst fällt ein definitiver Entscheid. Aber natürlich hat beispielsweise in Arbon alles, was mit der Geschichte der Saurer AG zu tun hat, schweizweite Ausstrahlung. Da wird sich die Frage nach der nationalen Bedeutung auf jeden Fall stellen.

Aktuell befinden sich im zu überarbeitenden Hinweisinventar (HWI) 32 000 Objekte. Laut der Projektleitung der Überarbeitung des Inventars wird sich dieses um rund 70 Prozent reduzieren (siehe Kasten). Wie kommt es, dass das HWI derzeit noch so überfüllt ist?

Im HWI konnten Objekte mit den Einstufungen «besonders wertvoll», «wertvoll», «bemerkenswert» oder «aufgenommen» vermerkt werden. Besonders in der Kategorie «aufgenommen» wurden viele Objekte hinzugefügt, um sie vorgemerkt zu haben. Es ging darum zu wissen, was überhaupt alles vorhanden war. Genau von dieser Art Inventar will man sich nun trennen. Die Überarbeitung des Inventars soll schliesslich eine inhaltliche Neuausrichtung darstellen. Wir sind deshalb bei der Inventar-Aufnahme durchaus kritisch und nehmen nicht einfach möglichst viel auf, nur um es aufgenommen zu haben.

Die Objekte im Hinweisinventar Bauten wie zum Beispiel die Arboner Webmaschinenhalle werden im Zuge der Neuausrichtung der Denkmalpflege nach wissenschaftlichen Kriterien auf ihre Schutzwürdigkeit überprüft.
Die Objekte im Hinweisinventar Bauten wie zum Beispiel die Arboner Webmaschinenhalle werden im Zuge der Neuausrichtung der Denkmalpflege nach wissenschaftlichen Kriterien auf ihre Schutzwürdigkeit überprüft.
© Kevin Fitzi

Sie sind seit diesem Frühling mit den Recherchearbeiten von Bauten mit Baujahr 1960 bis 2000 im Bezirk Arbon beschäftigt. Wie muss man sich diese Arbeit vorstellen?

Ein grosser Teil besteht in der Vorbereitung. Ich laufe nicht einfach von Gebäude zu Gebäude, sondern informiere mich im Vornherein: Was finde ich in der Fachliteratur über das Objekt? Was ist im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) oder anderen Inventaren dazu zu finden? Darin stosse ich oft auch wichtige Hinweise, wie sich ein Ort entwickelt hat. Es geht schliesslich nicht nur darum, jedes Objekt einzeln zu betrachten, sondern den Gebäudebestand einer Ortschaft erkennen zu können. Dazu helfen auch Ortschroniken oder Gemeindearchive. Schliesslich ist kaum irgendwo ein wichtiger Bau entstanden, über den nie jemand etwas gesagt oder geschrieben hat.

Wo Gebäude sind, sind auch Menschen: Welche Geschichte erzählen die Gebäude im Bezirk Arbon über die Menschen, die hier gelebt haben?

Wenn wir jetzt das 19. und 20. Jahrhundert in der Region miteinander vergleichen, dann sieht man frappante Entwicklungen. Zum Beispiel, dass die Industrialisierung und die Moderne Einzug gehalten haben. Ich habe jedoch noch kein historisches Fazit gezogen. Was ich aber bereits sagen kann: Es gab bisher immer wieder Entdeckungen, die mich überrascht haben.

Zum Beispiel?

Zu bemerken, dass es in Arbon den Architekten Plinio Haas gab, der über die Region hinaus qualitativ hochstehende Objekte entworfen hat; man kennt ihn aber kaum in der Bevölkerung. Es gibt bisher keinen Überblick zu seinen Werken, den erschaffe ich jetzt erst mit der Inventarisierung. Dieser Prozess hilft somit enorm für das Verständnis einer Region.

Ein potentielles Objekt des IDEGO: Das Seewasserwerk Frasnacht.
Ein potentielles Objekt des IDEGO: Das Seewasserwerk Frasnacht. 
© z.V.g.

Apropos Verständnis: Dieses fehlt Liegenschaftsbesitzenden oft, wenn die Denkmalpflege als Verhinderer bei Bauprojekten wahrgenommen wird. Plakativ formuliert: Kann die Arbeit der Denkmalpflege mehr als Projekte blockieren?

Ich bin dieser Frustration über die Arbeit der Denkmalpflege auch schon begegnet. Oft wird argumentiert, man wolle kein Freilichtmuseum à la Ballenberg sein. Das deckt sich auch überhaupt nicht mit meinem Verständnis von Denkmalpflege. Ich will nirgendwo eine Käseglocke darüberstülpen. Für mich ist klar, dass das Leben weitergeht und auch in Zukunft gebaut werden muss. Die Geschichte setzt sich fort. Aber meiner Meinung nach kann man die Zukunft nur mit dem Wissen über die Vergangenheit gestalten. Das mag sich nach einer Floskel anhören, aber bewahrheitet sich in der Praxis. Nur wenn wir auf das Wissen über gute Baukultur zurückgreifen können, können wir darauf aufbauen. 

Erhält die Denkmalpflege also ein historisches Archiv in der materiellen Form von Bauobjekten?

Sozusagen. Und das IDEGO ist ein wichtiges Tool dafür, das dazugehörige Geschichtsverständnis zu bewahren. Ausserdem: Nur weil etwas schützenswert ist, heisst das noch lange nicht, dass man es nicht ändern darf. Denkmalpflege will vor allem, dass Objekte weiter genutzt werden können. Nur so leben Gebäude sinnvoll weiter.

Die Neuausrichtung der Denkmalpflege im Überblick

Seit 2020 arbeitet der Kanton Thurgau aufgrund wiederkehrender Kritik aus der Politik an der Denkmalpflege an deren Neuausrichtung. In einem ersten Vernehmlassungsverfahren soll nun die Bevölkerung miteinbezogen werden (Inserat Seite 10). «felix.» hat ein paar grundlegende Fakten rund um die Thematik zusammengetragen. 

Um was geht es in der Neuausrichtung der Denkmalpflege?
Das Projekt der Neuausrichtung besteht aus drei Paketen: Einem ersten, fachlichen Paket, welches die Überarbeitung des Hinweisinventars Bauten (HWI) und die Überführung in ein reduziertes Inventar der erhaltenswerten und geschützten Objekte (IDEGO) enthält. Die Recherchearbeiten von Kunst- und Architekturhistoriker Michael Hanak gehören zu diesem Projektteil. Ein zweites, rechtliches Paket umfasst die Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes mit neuer Aufgabenteilung zwischen dem Kanton und den Gemeinden. Ein drittes, planerisches Paket besteht aus der Überprüfung und Reduktion der Ortsbilder des kantonalen Richtplans.

Wann soll die Neuausrichtung der Denkmalpflege abgeschlossen sein?
Paket 1 und Paket 2 befinden sich mit den laufenden Vernehmlassungsverfahren im gesamten Kanton voll im Gang. Die Arbeiten am Paket 3 sollen nächstes Jahr vorangetrieben werden, heisst es in einer Medienmitteilung des Regierungsrats von Anfang September. Die Arbeiten an allen Paketen sollen voraussichtlich so abgeschlossen werden, dass die vorgenommenen rechtlichen Änderungen am 1. Januar 2027 in Kraft treten können. Dies aber hängt ab vom Entscheid des Grossen Rats.

Wie stark soll der Bestand des Inventars im Zuge der Neuausrichtung reduziert werden?
Basierend auf den Ergebnissen aus den 45 Thurgauer Gemeinden, deren Hinweisinventar bereits überarbeitet wurde, lässt sich laut Kiri Hoffmann, Co-Projektleiterin Überarbeitung Hinweisinventar eine Reduktion von 70 Prozent prognostizieren. Diese drastische Reduktion sei dadurch zu erklären, dass es sich bei dem bisherigen Hinweisinventar Bauten um ein Flächeninventar handelt, das den gesamten Gebäudebestand bis und mit 1960 auflistet. Dieses Modell soll nun durch das Schutzvermutungsinventar IDEGO abgelöst werden, in dem nur noch Gebäude verzeichnet sind, die von einer Fachkommission auf ihre wissenschaftlichen Kriterien hin überprüft wurden.

Was ändert sich für Liegenschaftsbesitzende mit der Neuausrichtung der Denkmalpflege?
Die für Liegenschaftsbesitzende wichtigste Änderung ist der Wechsel von Schutzplänen hin zu Einzelschutzverfügungen. Während mit den Schutzplänen nur ein allgemeiner Schutz gesprochen werden konnte, soll mit den Verfügungen detaillierter über Schutzziel und Schutz- umfang bestimmt werden. Der Kanton schreibt in einer Mitteilung, dass damit die Planungs- und Rechtssicherheit für alle Beteiligten erhöht werden könne.

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