Aus dem Leben eines Musikanten
Alice HoferHans Hälg empfängt mich mit den Worten: «So schnell wird man alt! Ich bin schon 81-jährig und möchte noch 120 werden!» Nun, meine ich, das dauere nurmehr vierzig Jährchen, also keine grosse Sache. Er lacht spitzbübisch und hat mir damit bereits seinen Humor erklärt. Ein Glück, dass er sich diesen bis heute bewahren konnte, denn sein Leben war beileibe nicht nur mit Zuckerguss verziert. Er wohnt hier im Seniorenheim, wo er sich vor rund zweieinhalb Jahren niedergelassen hat. Das Gemach ist einfach und praktisch eingerichtet. Bett, Tisch, Sessel, TV. Auf dem Regal eine Handorgel, dazu Fotos von Kindern und Hunden. An der Wand zwei Gemälde von Naturkulissen. Eines davon war ein Geschenk, das andere hat Hans Hälg gekauft, «im Brockenhaus, für 28 Franken», wie er sagt. Und dann das absolute Prunkstück, eine mannshohe Pendule aus der goldenen Blütezeit mechanischer Uhrenmacherkunst.
Bittere Tränen und Wanderschaft
Der Bub mit den drei wohlklingenden Namen Hans Johann Josef wurde am 6. Dezember 1943 geboren. «In Vilters SG lebte ich die ersten sieben Jahre, dann wurde ich auf die Alp geschickt, als Kuhhirt.» Dort begegnete er der rohen Gewalt von zwei oftmals betrunkenen Sennen: «Sie haben mich fast zu Tode geprügelt, ich verbrachte einen Monat im Spital.» Danach wuchs er mehrheitlich in einem Rheintaler Kinderheim auf, wo er «geschult» wurde. Damals galt es noch als «pädagogisch wertvoll», die Kinder zu schlagen. Der kleine Hans erduldete groben Missbrauch vom brutalen Pater und von jähzornigen Klosterfrauen. «Ich weinte jeden Tag», sagt er leise, «es war fürchterlich.»
Mit 15 erhoffte er sich endlich Licht am Ende des Tunnels, als ihm angeboten wurde, eine Bäckerlehre zu machen. Doch dies wurde wiederum von den zuständigen Autoritäten vereitelt. «Stattdessen musste ich bei ELESTA in Bad Ragaz zur Arbeit antreten. Die RS absolvierte ich dann in Saint Maurice VS, als 20-Jähriger war ich Kanonier in der Festungsartillerie Bad Ragaz.» Bald erwarb er das Lastwagen-Permit und begann beim Gerschwiler Kieswerk in Goldach mit Aushub und Transport. «Die 40-Tönner zu lenken, war einfacher als jetzt diesen Rollstuhl», sagt er verärgert. Mit einer Hand manövriert er sich heute durch das Zimmer, seit er von einem Schlaganfall linksseitig gelähmt ist. Dann erzählt er, wie er nach 14 Jahren im Betonwerk den Dienst quittierte und weiterzog nach Bischofszell, in die damalige Konservenfabrik. Dort wirkte er als Maschinenführer, kontrollierte Verpackung und Etikettierung von 300 Blechdosen pro Minute. «Ein unglaubliches Tempo zum Überwachen», sagt er. Als 36-Jähriger kaufte er sich das Akkordeon und lernte es bei Heidi Wachter-Rutz in Rorschach zum Klingen zu bringen. Gemeinsam mit Kollegen wurde dann hie und da zum Tanz aufgespielt. «Gratis, versteht sich, es gab Speis und Trank, das war die Gage», erklärt Hälg. Später erlernte er noch das Flügelhorn. Mit Wehmut denkt er an diese Zeit zurück, seit er nun nicht mehr selber Musik machen kann. Immerhin sieht er seine frühere Lehrerin ab und zu im Schweizer Fernsehen, was ihn stets freut.
Die Kirschen in Nachbars Garten
Und gab es eigentlich nebenbei auch ein Privatleben? «Dreimal verheiratet, viel zu viel» winkt Hälg ab. Auf meine Frage, wie es soweit kommen konnte, gibt er unumwunden zu: «Ich bin jedesmal gegangen, weil ich eine Bessere oder Jüngere kennenlernte.» Das Gras ennet dem Zaun leuchtete halt grüner, die Kirschen schmeckten süsser. «Die Erste war rothaarig», ergänzt der Casanova Hälg, «die beiden andern waren Brünetten.» Aus den Verbindungen sind mehrere Sprösslinge hervorgegangen, einige besuchen ihren Vater immer noch. Ansonsten gibt es nicht mehr viele Verwandte.
Und wer sind nun seine Freunde? Zwei alte Arbeitskollegen, Heinz und Domenic, sowie die beiden treuen Hunde «Nikki» und «Flöckli» auf dem Foto. «Sie fressen mich jeweils fast, wenn sie mich sehen», erzählt er nicht ohne Stolz. «Ich vermisse sie sehr; sie leben in Deutschland.» Und was möchte Hans Hälg der jungen Generation ganz allgemein sagen? «Spare in der Zeit, so hast du in der Not», sagt er ohne Zögern, «und unbedingt eine Ausbildung machen! Ich konnte es nicht, das tut mir heute noch weh!» Zum Schluss darf ich noch die ehrwürdige antike Standuhr aus der Nähe betrachten. Sie steht still. Das ständige Tick-Tack hatte ihn gestört. Hälg weist mich an, das grosse, runde Pendel sachte in Bewegung zu setzen. Wir bewundern gemeinsam das kunstvolle Zifferblatt, während wir darauf warten, dass der grosse Zeiger vorwärts kriecht. Dann ertönt ein vollkommener, warmer, leicht bebender Glockenklang. Er lässt mich innerlich erschaudern und erinnert mich an das Sprichwort: «Die Zeit heilt alle Wunden.»
Lebenslinien: Menschen erzählen ihre Geschichten
Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Lebenslinien». In dieser lädt «felix. die zeitung.» die ältere Leserschaft (ab 65 Jahren) zum Gespräch ein. Erzählen Sie uns Ihre Erlebnisse, Einsichten und Weisheiten. «felix.»-Reporterin Alice Hofer besucht Sie gerne in Ihrem Daheim. Die Porträts erscheinen im Anschluss in lockerer Reihenfolge in der Zeitung. Wenn auch Sie etwas aus Ihrem Nähkästchen plaudern wollen, melden Sie sich bei uns per Mail an hofer@mediarbon oder telefonisch unter 071 440 18 30.