Aus stürmischen Zeiten geboren
Laura Gansner«Die Zeit ist reif», titelte diese Zeitung Anfang 2002. Zitiert wird dabei der damalige Stadtamman Giosch Antoni Sgier, der sich sicher war, «dass sich ein Stadtparlament auszahlt». Arbon sei bereit für einen Neubeginn, erklärte Sgier – und ahnte damals wohl noch nicht, dass sich die Arboner Bevölkerung zwar für einen Neubeginn mit Stadtparlament, jedoch ohne ihn aussprechen werden wird. Zwischen diesen beiden Volksentscheidungen lag ein Jahr, doch entsprangen sie demselben Wunsch: Mehr Ruhe auf der Arboner Politbühne schaffen. So wendete sich Ralph Zanoni, damaliger Kommissionspräsident für die Einführung des Stadtparlaments, im «felix.». Nummer 3 / 2002 mit rhetorischen Fragen an die Leserschaft: «Willst du, dass alles beim Alten bleibt? Lähmende Streitigkeiten? Nein, du willst doch auch einen neuen Frühling für Arbon.» Ein neuer Frühling hiess, nicht mehr fast wöchentlich von Auseinandersetzungen zwischen Stadtrat und Stadtamman zu lesen, die mehrmals so weit gehen, dass sich der Stadtrat öffentlich von Äusserungen und Handlungen des höchsten Amtträgers distanziert. Ein neuer Frühling, so Zanoni, versprach einen «Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur». Mit 2318 Ja- zu 1193 Nein-Stimmen stimmte die Arboner Bevölkerung im März 2002 diesem Aufbruch in neue politische Gezeiten zu.
Begünstigende Umstände
Dass es zu einem solch deutlichen Abstimmungsergebnis kam, sei aber nicht alleine dem unruhigen Politklima Anfang der 2000erJahre zu verdanken, bedenkt Andrea Vonlanthen, Arbons erster Parlamentspräsident. Denn im Gegensatz zur ersten Abstimmung 1984, bei welcher die Einführung eines Gemeindeparlaments vor dem Volk scheiterte, hätten sich in den darauffolgenden 20 Jahren zwei wichtige Kriterien verändert. Erstens sei die Frage nach einer Lokalität für die Parlamentssitzungen mit dem Bau des Seeparksaals geklärt worden. Zweitens, und dies sei die ausschlagebende Voraussetzung für das Ja zum Stadtparlament, habe man unterdessen die Arboner Munizipal- und Ortsgemeinde zu einer politischen Gemeinde zusammengeschlossen: «Damit wurde eine mögliche Zweigleisigkeit politischer Prozesse beseitigt.» Ausserdem habe man gehofft, mit dem Parlament nach der Fusionierung von Arbon, Stachen und Frasnacht zu einer Einheitsgemeinde, ein identitätsstiftendes Element zu schaffen.
Fehlendes Feuer in Debatten
Wie die versprochene «neue politische Kultur» in Arbon tatsächlich aussehen werde, konnten die frisch gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern im Mai 2003 an der ersten Sitzung unter Beweis stellen. Bei der «Feuertaufe für die Legislative», wie es im «felix.» Nummer 21 / 2003 heisst, appellierte CVP-Politikerin Trudy Aepli an ihre Parlamentskolleginnen und -kollegen, «alle Energie in die Zukunft von Arbon zu investieren.»
Die Vision der frischgewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern sei klar gewesen, erinnert sich Andrea Vonlanthen: der Arboner Exekutive und der Verwaltung in Zukunft genauer auf die Finger zu schauen. Diese Aufsicht über den Stadtrat vermisse er heute beim Arboner Stadtparlament teilweise: «Ich wünsche mir mehr Hartnäckigkeit von den Parlamentsmitgliedern.» Auch in der Debattenkultur habe das Parlament zur Zeit Aufholbedarf. Es werde oft nicht wirklich konstruktiv debattiert und zu schnell auf die Vorschläge der Exekutive eingegangen. «Mir fehlt die Debatte um der Sache Willen.»
Korrekturen mit Vorsicht
Daniel Bachofen, Fraktionspräsident SP/Grüne, ist sich sicher, dass das Parlament die Exekutive sehr wohl immer wieder kritisch hinterfragt, «aktuell beim Sportplatz Stachen, wo es den Stadtrat aufgefordert hat, nochmals über die Bücher zu gehen.» Die Aussagen der anderen drei Fraktionspräsidenten gehen in eine ähnliche Richtung, wenn auch deutlich eine Forderung nach Ausgewogenheit und Mässigung mitschwingt. So erklärt Pascal Ackermann, Fraktionspräsident SVP, dass das Parlament sowohl für Ruhe zu sorgen wie auch in den entscheidenden Momenten die Exekutive und deren Aktionen kritisch zu hinterfragen habe: «Dies soll aber immer auf einer sachlichen Ebene stattfinden, die unsere Stadt vorwärtsbringt.» Migga Hug, Fraktionspräsident Die Mitte/EVP, kommentiert: «Das Parlament sollte einerseits den Stadtrat sinnvoll unterstützen und anderseits auch aufrütteln.» Cyrill Stadler, Fraktionspräsident FDP/XMV, fügt hinzu, dass das Parlament Korrekturen einleiten könne, wenn Abläufe in der Exekutive nicht stimmen. Er mahnt jedoch zur Vorsicht: «Dieses Instrument sollte das Parlament aber ganz dosiert und überlegt einsetzen.»
Ruhe seit 2019
Wenn auch Andrea Vonlanthen kritische Worte findet zur Debattenkultur, so verweist er gleichzeitig auf eine deutliche Verbesserung der Kommunikation zwischen den Parteien im Allgemeinen. Wo vor Einführung des Parlaments verhärtete Fronten an der Tagesordnung waren, habe sich dies nach und nach mit der Einführung des Parlaments gelöst. «Wir haben wieder angefangen, überhaupt miteinander zu sprechen.» Bis sich dadurch tiefgreifende Veränderungen im politischen Klima entwickeln konnten, dauerte es aber eine Weile.
«Es gab ständig Verbesserungen, aber eine Stabilisierung und spürbare Ruhe gelang erst unter dem ehemaligen Stadtpräsidenten Dominik Diezi.» Dieser wurde 2019 in sein Amt gewählt. Mit ihm ein gänzlich neu zusammengesetzter Stadtrat. Ein deutliches Zeichen des Missmuts der Arboner Bevölkerung über die herrschenden politischen Zustände. Dass Diezi in dieser Situation eine Beruhigung des politischen Klimas erreichen konnte, könnte auch damit zu tun haben, dass er zuvor als bisher einziger Stadtpräsident im Stadtparlament sass. «Diezi hat im Gegensatz zu anderen Stadtpräsidenten das Parlament stets ernst genommen», kommentiert Vonlanthen.
Aufgaben erfüllt, aber …
Ob die Legislative auch in Zukunft weiter so bestehen bleiben soll, wird zur Zeit von Stadtparlamentarier Lukas Auer in einer Einfachen Anfrage in Frage gestellt. Aufgrund des Bevölkerungswachstums möchte Auer vom Stadtrat wissen, ob dieser zu einer Aufstockung des Parlaments um zehn Sitze steht. Damit könnten die Aufgaben «auf mehrere Schultern verteilt werden». Cyrill Stadler schlägt in einem Gedankenspiel genau das Gegenteil vor: eine Reduzierung auf 20 Sitze: «Vielleicht würde dies mehr Effizienz bringen.» Bei dieser habe das Parlament grundsätzlich Luft nach oben. Dafür sprechen auch die Kritikpunkte, die von Migga Hug und Pascal Ackermann angebracht werden. Während sich Hug kürzere Voten und «mehr Fingerspitzengefühl und Augenmass für die Hauptthemen» wünscht, fehlt es Ackermann in gewissen Geschäften an «Realitäts- und Kostenbewusstsein». Aber grundsätzlich sind sich die Fraktionspräsidenten einig: Das Parlament erfüllt seine Hauptaufgaben weitgehend zufriedenstellend. Dies scheint ausschlaggebend für die aktuell deutlich ruhigere Arboner Polit-Landschaft als noch vor Entstehung des Parlaments. Migga Hug mahnt jedoch, sich nicht zu wohl zu fühlen in dieser Ruhe: «Es kommen automatisch wieder andere Zeiten.» Das Parlament tue deshalb gut daran, weiterhin «exakt und konzentriert» die Geschicke der Exekutive zu kontrollieren.
20 Jahre Arboner Stadtparlament in Zahlen
Total waren in den letzten 20 Jahren 88 Mitglieder im Parlament, 30 davon waren Frauen. Insgesamt 10 Parteien oder Gruppierungen hatten oder haben Einsitz im Parlament: CVP (heute Die Mitte), EVP, SVP, SP, Zukunftswerkstatt Arbon (ZWA), FDP, Die kleine Liste, XMV, Grüne Partei Arbon und die Bürger Fraktion Arbon. Seit Parlamentsbeginn gingen 228 parlamentarische Vorstösse ein. Davon waren 95 Einfache Anfragen, 75 Interpellationen, 14 Postulate (diese sind erst seit 2008 möglich) und 47 Motionen. Von den 47 Motionen sind 20 erheblich erklärt worden, 17 nicht erheblich und 10 sind vom Vorstösser zurückgezogen worden. Die Sitzungsgelder fürs Parlament, die Fraktionen und das Büro belaufen sich auf 1 086 378 Franken, jene für die Kommissionen auf 651 632 Franken.