«Das war ein emotionaler Entscheid»
Kim Berenice GeserDie Wohnbaugenossenschaft Pro Familia plant einen Neubau an der Schützenstrasse 17. Hierfür müssen die beiden bestehenden Häuser 17/19 und 21 weichen. Warum hat man sich für einen Neubau und nicht für eine Sanierung entschieden?
Martin Ribler: Allein die Kosten für eine energetische Sanierung der bestehenden Liegenschaften sind unverhältnismässig und am Ende wäre es doch nichts «Gscheites».
Andreas Dörig: Auch die heute gesetzlich geforderte Barrierefreiheit liesse sich kaum umsetzen. Und der Grundriss bleibt auch mit einer Sanierung veraltet. Dieser Bau ist aus den 60er-Jahren. Auch die Bausubstanz ist in die Jahre gekommen und entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen.
Ribler: Zu diesem Schluss kam auch der externe Experte, welchen wir für die Evaluation hinzugezogen haben.
Wie hoch ist der Kostenunterschied zwischen Neubau und Sanierung?
Dörig: Der Kredit für den Neubau beträgt rund 10 Mio. Franken. Eine Sanierung hätte je nach Umfang zwischen 4 bis 6 Millionen gekostet.
Mario Freda: Der Mehrwert des Neubaus wiegt den Preisunterschied aber alle Mal auf. Wir erhalten einen besseren Grundriss, eine zeitgemässe Isolation und eine langlebige Bausubstanz
Obwohl zwei Blöcke abgerissen werden, bleibt der Anteil Wohneinheiten mit 18 Stück gleich. Warum?
Dörig: Weil das Baureglement nicht mehr Wohnfläche zulässt. Wir haben mit dem Neubau die Fläche komplett ausgereizt. Auch mit dem neuen Zonenplan hätten wir nur marginal mehr Wohneinheiten erstellen können.
Ribler: Ökologisch ist es heutzutage unverständlich, 18 Einheiten abzubrechen und nur durch gleich viele ersetzen zu können. Hier wäre auch die Politik in der Verantwortung. Alle sprechen von verdichteter Bauweise, aber wirklich möglich gemacht wird sie nicht.
Freda: Wir hätten auch die Möglichkeit gehabt, anzahlmässig mehr dafür kleinere Wohnungen zu planen. Das wäre finanziell lukrativer gewesen, aber entspricht nicht der Philosophie von «WBG Pro Familia». Wir wollen, wie der Name schon sagt, vor allem bezahlbaren Wohnraum für Familien zur Verfügung stellen.
Um den Neubau zu verwirklichen, musste «Pro Familia» allen Mieterinnen und Mietern der 18 bestehenden Wohneinheiten kündigen.
Freda: Das war ein sehr emotionaler Entscheid und wir haben lange mit uns gerungen. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Genossenschaft, dass wir diesen Schritt gehen mussten.
Ribler: Um den Entscheid für alle Mietenden erträglich zu machen, haben wir die Kündigungsfrist auf ein Jahr gesetzt. Darüber hinaus haben wir allen angeboten, sie bei freiwerdenden Wohnungen in unseren anderen Liegenschaften zu bevorzugen. In gewissen Härtefällen hätten wir sogar die Umzugskosten übernommen.
Zu solchen kam es also nicht?
Ribler: Nein, ich denke, das liegt an unserer frühen und offenen Kommunikation.
Dörig: Selbstverständlich kam damals die Frage auf, warum wir dies tun. Doch nachdem wir die Sachlage erklärten, stiessen wir schnell auf Verständnis.
Freda: Inzwischen haben alle Mietenden eine Anschlusslösung gefunden.
Gibt es bereits Interessenten für die Wohnungen des Neubaus?
Ribler: Nein, wir haben diese aber auch noch nicht ausgeschrieben. Das werden wir erst gegen Ende der Bauzeit tun. Unsere Erfahrungen mit dem Neubau an der Romanshornerstrasse haben gezeigt, dass die Vermietung problemlos funktioniert.
Dörig: Damals waren die 30 Wohnungen nur drei Monate nach Fertigstellung alle bezogen.
Sie haben es vorhin selbst gesagt, «Pro Familia» steht für bezahlbaren Wohnraum. Die Nettomieten im Neubau bewegen sich zwischen 1550 Franken (3½-Zi-Whg.) und 2400 Franken (4½-Zi-Whg. mit Attika). Das ist im Arboner Vergleich eher hoch.
Ribler: Wir haben uns bei der Preisgestaltung am Markt orientiert und liegen ungefähr 10 Prozent darunter. Gemessen an der Grösse der Wohnungen sind die Mieten im Vergleich tief.
Dörig: Vor allem gemessen an der Qualität, der Bausubstanz und der Umgebungsgestaltung mit einem Spielplatz direkt im Quartier sind wir attraktiv. Auch bietet die WBG Pro Familia mit dem Gemeinschaftsraum «Casa Familia» an der Romanshornerstrasse, ein kostenloses, attraktives Freizeitprogramm für alle Mietenden an.
Freda: Wir bauen mit einem Zweischalen-Sichtmauerwerk, das ist quasi Rolls-Royce Variante. Wie gesagt: Wir wollen einen nachhaltigen Bau. Das hat aber auch seinen Preis.
Ribler: Die Preis-Leistung stimmt auf jeden Fall. Das erkennen auch die Mietenden. An der Romanshornerstrasse, an der wir im gleichen Stil gebaut haben, gibt es kaum Leerstände
Dörig: Ausserdem sind die Mieten erst provisorisch fixiert.
Ribler: Wir wissen ja nicht, wie sich der Markt bis dahin noch verändert. Sollte es die Situation verlangen, werden wir die Mietzinsen entsprechend anpassen.
Das Baugesuch ist bereits bewilligt und letzte Woche hiessen auch die Genossenschafterinnen und Genossenschafter der «Pro Familia» den 10 Mio. Kredit einstimmig gut. Wann fahren also die Bagger auf?
Dörig: Am liebsten sofort (lacht). Wir rechnen mit dem Baubeginn zum Jahreswechsel. Aktuell laufen die Vorbereitungsarbeiten für die Ausschreibung der Arbeitsvergabe.
Wann ist die Fertigstellung geplant?
Dörig: Wir rechnen mit einer rund zweijährigen Bauphase. Die Dauer ist unter anderem abhängig von Kapazitäten der ausführenden Baufirmen. Unser Ziel ist es, alle Aufträge möglichst lokal zu vergeben.
Freda: Wir würden uns eine Fertigstellung bis Sommer 2025 wünschen.
Auch die beiden angrenzenden Liegenschaften an der Henri-Dunantstrasse und der Brühlstrasse gehören der «WBG Pro Familia». Beide ebenfalls in den 60er-Jahren gebaut. Sind dort künftig ähnliche Projekte wie an der Schützenstrasse geplant?
Freda: Wir haben den Studienauftrag bewusst über das gesamte Gebiet machen lassen. Denn wir sehen dieses als eine Einheit an und wollten wissen, welche Möglichkeiten sich in Zukunft ergeben könnten. So ist beispielsweise die Tiefgarage des Neubaus überdimensioniert, damit wir die beiden angrenzenden Liegenschaften ebenfalls daran anschliessen können.
Ribler: Mit dem jetzigen Projekt verbauen wir uns für die Zukunft nichts. Noch gibt es aber keine Pläne für die angrenzenden Liegenschaften.
60 Jahre Wohnbaugenossenschaft Pro Familia
Mit der Gründung des Initiativkomitees für günstigen Wohnungsbau in Arbon begann am 29. März 1963 die Geschichte der «Wohnbaugenossenschaft Pro Familia». Präsidiert wurde sie zu Beginn von Gion Sgier. Der Spatenstich für die erste Liegenschaft an der Brühlstrasse 99/101 erfolgte am 9. November 1964. In den folgenden Jahrzehnten kamen mehrere Neubauten dazu (Föhrenstr. 1/3/5/7 und 2/4 und Romanshornerstrasse 87/89). Ausserdem wurden die Liegenschaften an der Schützenstrasse 17/19/21, der Henri-Dunant-Strasse 2/4 und der Brühlstrasse 75 von «Pro Familia» erworben. Heute verfügt die Genossenschaft über insgesamt 150 Wohneinheiten in verschiedenen Wohnungsgrössen für Familien, Seniorinnen und Senioren. Mario Freda präsidiert den fünfköpfigen Vorstand seit 2015, zu dem auch Corina Steingruber, Corinne Hug, Martin Ribler und Andreas Dörig gehören.