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Der Handwerker, der Mode prägt

Martin Schlegel erhält mit seiner Textildruckerei in Arbon ein Stück Industriegeschichte am Leben. Für seine ausgefallenen Arbeiten erhielt er kürzlich den Swiss Design Award.

Kim Berenice Geser

Im Treppenhaus der Textilstrasse 2 in Arbon hängen lange, buntbedruckte Stoffbahnen von der Decke. Sie lassen erahnen, was von Aussen kaum sichtbar ist: Im Innern der Webmaschinenhalle auf dem Areal des ehemaligen Saurer WerkZwei verbirgt sich ein Stück Kulturgut. Von oben dringen Kinderstimmen in den Korridor. Beim Betreten der weitläufigen Räume der Textildruckerei (TDS) wird klar, woher sie kommen: An einem der zwei langen Handdrucktische arbeitet eine Schülergruppe zusammen mit ihren Lehrerinnen. Martin Schlegel taucht aus dem Hintergrund auf. Seine Hosen zerrissen, voller Flicke und, wie sein T-Shirt auch, mit Farbflecken übersäht. Der Inhaber der Textildruckerei Arbon lächelt etwas müde. «Willst du auch einen Kaffee?» Als er es sich kurz darauf mit der Tasse in der Hand auf dem Sofa in einem abgetrennten Bereich der Halle gemütlich macht, erklärt er: «Das ist eine Schulklasse aus St. Gallen. Sie bedrucken hier bei mir den Stoff für ihre Kinderfestkleider.» Es wird nur eines von vielen Beispielen der Werke sein, die Schlegel zusammen mit seiner Mitarbeiterin Linda Nafzger in der alten Webmaschinenhalle verwirklicht.

Eine Entscheidung steht an

Schlegel hatte das Unternehmen 2016 kurz vor dessen Aus übernommen. Der Quereinsteiger – er hatte die kaufmännische Lehre bei der Bischoff Textil AG absolviert – lernte daraufhin in nur zwei Jahren das Siebdruckhandwerk von seinem inzwischen verstorbenen Mitarbeiter Günter Wassertheuer. «Als Günter verunglückte, habe ich mir einen Monat Auszeit genommen», erzählt der 45-Jährige. Er musste nicht nur den Tod seines Freundes verkraften, sondern sich auch entscheiden, ob er mit der TDS weitermachen will. Es sei ein zähes Business, das einem nicht nur körperlich viel abverlangt, sondern auch den starken saisonalen Schwankungen der Modeindustrie unterliegt. Sein Entschluss lautete dennoch: Jetzt erst recht! Warum? «Das hier ist eine Perle», sagt er und macht eine ausschweifende Handbewegung, die mehr als nur den Raum einschliesst.

Martin Schlegel verschwindet beinahe hinter Dolores, seiner halbautomatischen Handsiebdruck-Maschine. kim

Stoffe, so teuer wie ein Auto

Seit diesem Entscheid ist viel passiert und Schlegel hat sich mit der TDS einen Namen in der Textilbranche gemacht. Er hat einen Partnerschaftsvertrag mit der FH Basel, ist Teil des Ostschweizer Kulturförderprogramms TaDa und arbeitet seit 2018 mit der St. Galler Textilfirma Jakob Schlaepfer zusammen. Seine Stoffe werden von den ganz grossen Designerlabels in der Industrie gekauft. Namen darf er keine nennen. Ausser den von Heidi Klum. Deren w Reality-Show «Making the Cut» gewann im letzten Jahr der Schweizer Designer Yannik Zamboni mit einem Siebdruck der TDS. Schlegel entwickelt Techniken und arbeitet mit Materialien, die sonst in der Siebdruckbranche kaum einer verwendet. Er ist ein Erfinder und Tüftler. «Wenn du etwas Spezielles und Swiss made willst, kommst du hierher», konstatiert er. An Selbstbewusstsein fehlt es ihm nicht. «Ich habe ein grosses Ego», gibt der Textildrucker offen zu. Doch er weiss auch, was er kann und die Kunden tun dies auch. Dabei ist die Bandbreite seiner Aufträge riesig. Für die Jakob Schlaepfer AG bedruckte er kürzlich nur wenige Meter dicht bestickten Paillettenstoff, «der so teuer ist wie ein Mercedes». Für eine Kunstausstellung im italienischen Bergamo rekonstruierte er das Grabkleid eines 12-jährigen Mädchens von 1441. Und nur wenige Stunden vor dem Gespräch ging eine Bestellung für den afrikanischen Markt ein: 11 000 Meter Stoff für Festtagskleider anlässlich der Ramadan-Feierlichkeiten. «Für diesen Auftrag allein brauchen wir drei Monate.» Und das im Winter, wenn es in der Webmaschinenhalle nass und kalt ist. «Das ist pikelhart und macht dich fertig. Aber ich will auch diese 11 000 Meter Aufträge machen.» Denn sie sind es, die neben den grossen Design-Aufträgen die Miete und den Lohn bezahlen. Eine Preisliste gibt es bei Schlegel nicht. «Das variiert je nach Auftrag.»

Mietvertrag bis zum Spatenstich

Bei einem Gang durch die Halle rollt Schlegel ein dicht bedrucktes Stück Stoff aus. «Hier haben wir rund 300 verschiedene Siebe verwendet.» Sieb für Sieb, Farbe für Farbe, Meter für Meter erschaffen Linda Nafzger und Martin Schlegel mit der halbautomatischen Handsiebdruck-Maschine Dolores Stoffe, die eigentlich Kunstwerke sind. Dabei bewegen sie sich an der Grenze zwischen Industriehandwerk und Design. «Vielleicht haben wir deshalb den Swiss Design Award gewonnen», werweist Schlegel. Für die Jury sind seine Werke «ein wichtiger Beitrag für die Schweizer Textilindustrie». Ob das auch der Kanton Thurgau in der Museumsfrage so sehen wird, ist aktuell noch unklar. Die Webmaschinenhalle soll dereinst das neue historische Museum beherbergen. Für Schlegel ist klar: Sein Betrieb sollte Teil der Ausstellung werden. «Es passt perfekt ins Konzept und schafft einen klaren Mehrwert.» Beim Kanton ist er mit dieser Idee aber noch nicht vorstellig geworden. Dabei zeigt sich Philipp Kuhn, der Leiter des kantonalen Kulturamts, auf Anfrage von «felix.» offen für ein Gespräch. «Ich bin natürlich gerne bereit, mit ihm darüber zu sprechen.» Und wenn die Integration ins Museum nicht klappt? «Dann werde ich dicht machen müssen», sagt Schlegel. Denn Dolores und ihr 60 Meter langer Drucktisch werden anderswo kaum eine Heimat finden.

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