Die Sprache der Farben
Alice HoferBereits als Kind hatte Christine Giger das Zeichnen und Malen für sich entdeckt. Als «zurückhaltend, scheu und angepasst» beschreibt sie sich selber von damals. Sie habe nicht viel geredet und sei eher in sich gekehrt gewesen. In der Unterstufe wurde ihr malerisches Talent bald entdeckt und gefördert, man unterstützte sie darin. «Das höchste der Gefühle für mich war eine Schachtel Caran d’Ache mit 40 Farben, einfach ein Traum!» schwärmt sie. Auch bei ihrer ersten Anstellung in der Kinderkrippe des Spitals St. Gallen galt ihr Interesse hauptsächlich dem Ausdrucksmalen. Als logische Folge ihrer kreativen Veranlagung wählte sie dann den Beruf der Kindergärtnerin. Zunächst wurde ihre Bewerbung im Toggenburg abgelehnt, weil sie «nicht katholisch» sei, daraufhin fand sie eine Anstellung in Goldach, wo sie drei Jahre lang tätig war.
Eine schicksalhafte Begegnung
Eines Tages besuchte sie einen Vortrag des Pädagogen und Forschers Arno Stern und lernte ihn persönlich kennen. Der gebürtige Deutsche hatte die Kriegsjahre in einer betreuten Unterkunft in der Schweiz verbracht, wo ihm Kunstgeschichte und Zeichnen beigebracht wurden. 1946 zog er nach Paris und kümmerte sich um Waisen. Er ermutigte sie, einfach zu malen, ohne Bewertung, und gründete ein Atelier speziell für diese Kinder. Christine Giger war fasziniert von seiner Ausstrahlung und der überzeugenden Arbeit, besuchte bald seine Kurse im Weisstannental und entdeckte weite Horizonte. Stern wurde ihr Vorbild. Sie begann nach seiner Methode zu arbeiten, wie viele andere damalige Ateliers ebenfalls; Sterns Lehre war in den Achtziger/Neunziger Jahren zunehmend populär und erfuhr später durch seinen Sohn André Stern noch weitere Ausdehnung.
«Farben und Pinselstriche ersetzen oft das Ringen nach Worten, wenn es einem schwerfällt, sich verständlich zu machen.»
Giger war Feuer und Flamme, sie absolvierte eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin und erkannte, dass es noch ganz andere Möglichkeiten gibt, sich auszudrücken, wenn die Sprache fehlt. «Mein Weg führte mich über das Malen und Gestalten zum katathymen Bilderleben», erzählt Giger, «ich befasste mich mit Indigo-Kindern und wurde Schülerin von Caroline Hehenkamp, später sogar ihre Assistentin.» Die Arbeit mit Jugendlichen war ergiebig, wie sie es auf den Punkt bringt: «Zu sich selbst finden in Zufriedenheit macht deutlich, wie wenig es braucht, um glücklich zu sein. Farben und Pinselstriche ersetzen oft das Ringen nach Worten, wenn es einem schwerfällt, sich verständlich zu machen.»
Loslassen ohne zu verlieren
Inzwischen hat sich die heute 71-Jährige in Arbon niedergelassen, wo sie im eigenen Atelier das «individuelle Menu» anbietet, je nachdem, was gerade erwünscht ist: Stress abbauen, die eigene Mitte wiederfinden, das Burnout regeln, Wendepunkte ausloten, neue Kapitel aufschlagen. Ihr Angebot findet grossen Anklang, sei es einzeln oder in Gruppen. Die Menschen, die zu ihr kommen, um in der Stille zu malen, erfahren ihre eigene persönliche Metamorphose. «Manche von ihnen schicken mir lange Dankesbriefe», verrät Giger, «und beschreiben ihre Veränderungen von inneren Blockaden und seelischer Erschöpfung hin zu einem Zustand des einfachen Seins, ohne Leistung, ohne Erwartung. Nur Farben und Formen geniessen, die sich ihrem eigenen Fluss hingeben wollen.» Es sei jeweils anfänglich mit innerem mentalem Widerstand zu rechnen, erklärt die Lehrerin, da man das Ergebnis natürlich wie gewohnt kontrollieren wolle. Jedoch, wie ein Besucher sich äussert, «beginnt bald etwas zu schmelzen, mit jedem Pinselstrich, jeder Farbe, die sich über das Papier legt», man dürfe «fühlen ohne Worte, und loslassen, ohne zu verlieren». Das Malen werde zur Brücke zwischen Verstand und Seele. Die Beschäftigung mit den Farben und der eigenen Tiefe eröffne neue Welten, meint er, der die Mal-Stunden bei Giger nicht als «Kurs» empfunden hat, sondern als «Reise zurück zu mir selbst.» Und was möchte Christine Giger in diesem Sinne den heutigen Jungen mit auf den Weg geben? «Hört auf Euer Herz und ihr wisst, dass ihr hundertprozentig richtig seid, so wie ihr seid.»
Treppenhaus-Konzert mit Ausstellung
Am Samstag, 8. November, von 17 bis 19 Uhr und am Sonntag, 9. November, von 12 bis 14 Uhr organisiert Christine Giger eine Ausstellung der besonderen Art: Sie verwandelt ihr Treppenhaus an der Bahnhofstrasse 29 in Arbon in eine Kunstgalerie, die gleichzeitig auch als Konzertbühne für das Duo CorAmar fungiert, das den Anlass musikalisch begleitet.
Menschen erzählen ihre Geschichten
In der Serie «Lebenslinien» laden wir die ältere Leserschaft (ab 65 Jahren) zum Gespräch ein. Erzählen Sie uns Ihre prägenden Erlebnisse, Einsichten und Weisheiten. «felix.»-Reporterin Alice Hofer besucht Sie gerne in Ihrem Daheim. Die Porträts erscheinen in lockerer Reihenfolge in dieser Rubrik. Wenn auch Sie etwas aus dem Nähkästchen plaudern wollen, melden Sie sich bei uns per Mail an hofer@mediarbon.ch oder telefonisch 071 440 18 30.