Ein Laden, in dem die Zeit still steht
Alice HoferMan betritt den Laden und wähnt sich augenblicklich in einer früheren Epoche: Es riecht nach Vergangenheit, Abenteuerfantasien, Pioniergeist. In unzähligen Vitrinen und Regalen stapeln sich tausenderlei Modellfahrzeuge jeder Form und Farbe, plus Zubehör, künstliche Vegetationen und vielfältigste Figürchen. Es ist ein Paradies für Bastler und Tüftler. Und mittendrin stehen seit bald fünf Jahrzehnten fast täglich Marlen und Gottlieb Brunner. Seine erste Begegnung mit der Eisenbahn war 1941, als sein Onkel eine Uhrwerk-Loki ins Haus brachte, die jeweils nach zwei Minuten wieder aufgezogen werden musste. «So kam es schon mal vor, dass sie unter dem Sofa zum Stillstand kam», erzählt Brunner, von wo der 6-jährige «Godi» sie dann hervorkramte. Er war flink und hatte schon damals ein goldenes Händchen für Mechanik. «Als ein anderer Bub eine elektrische Modell-Eisenbahn geschenkt bekam, wurde ich gefragt, bei der Installation zu helfen; das konnte ich, ohne zu lernen, weil ich es einfach begriff». Und obwohl ihn die Fahrzeuge fesselten, hatte er nie den Bubentraum, Lokführer zu werden.
Adoleszenz und Auszug
Gottlieb Brunner wuchs mit seiner Schwester in St. Georgen auf, wo er auch zur Schule ging. Man sammelte Holz im Wald, ging barfuss und meist hungrig durchs Leben. Die Kriegsjahre prägten den Knaben. Er half hier und dort aus, um sich einen Happen Essen zu verdienen, und stibitzte auch mal ein Stück Brot aus Grossmutters Stube. Nach dem Krieg übernahm Gottliebs Vater ein Baugeschäft und versuchte sich nebenher mit Glücksspielen im Casino, was weder dem Betrieb noch der Ehe zuträglich war: Entlassung und Scheidung waren die Folge. Danach lebte Brunner zunächst bei der Mutter, die verstarb, als er 14 war. Nun musste er zu Vater und Stiefmutter nach St. Gallen. Anstatt die Schule zu beenden, hatte er im Geschäft des Vaters zu schuften, was ihm bald unerträglich wurde. So bat er seinen Vormund, auswärts eine Lehre machen zu dürfen. Der erboste Vater erlaubte ihm schliesslich eine Ausbildung als Maurer. Wenig später, mit 18 Jahren, lernte er die gleichaltrige Marlen Kamm kennen. Und nach der Rekrutenschule erhielt er ein Angebot von seiner Lehrfirma, als Vorarbeiter für 2.85 Franken pro Stunde. So konnte er zuhause ausziehen und sich ein Zimmer mieten. 1956 wurde geheiratet, schon bald konnte sich das Paar eine kleine Wohnung leisten, für 60 Franken pro Monat; seither sind die beiden unzertrennlich.
Ankunft in Arbon
Irgendwann war ein Wechsel fällig, weg vom Lehrbetrieb, rein ins Leben: Am Abend-Technikum erwarb Gottlieb Brunner die nötigen Kenntnisse und arbeitete als Polier und Bauführer in St. Gallen. 1965 gab er per Inserat bekannt, dass er eine neue Stelle suche. Das entscheidende von fünf Angeboten kam aus Arbon: Er konnte sich als Bauführer positionieren, und Marlen bekam den gewünschten See. Inzwischen waren auch vier Kinder da. Mit der Zeit begann Brunner, nebenher für Modell-Bähnler diverse Reparaturen vorzunehmen. 1976 wurde er von der deutschen Lieferfirma Märklin dazu ermutigt, den Laden in Arbon zu eröffnen.
Marlen Brunner erklärte sich bereit, mitzumachen, obwohl sie bis heute «nicht wirklich begeistert» ist, wie sie sagt, da sie eigentlich ein Wollgeschäft wollte. Sie habe nur ihrem Mann zuliebe am selben Strick gezogen. Sie betreute den Laden, er reduzierte sein Arbeitspensum und war zeitweise ebenfalls vor Ort. Das gemeinsame Hobby entwickelte sich gut, die Kundschaft war international. 2005, als ihr Sohn Jürg verstarb, war das «Lädeli» die wichtigste Ablenkung vom Schmerz, beide stürzten sich in die Arbeit. Daneben hatte Brunner bereits diverse ehrenamtliche Tätigkeiten inne: als Kassier im Verkehrsverein Arbon, als Revisor bei der EVP, in der Feuerwehr, im Unteroffiziers-Verein. Eines Tages waren dann auch erstmals richtige Ferien zu zweit möglich: Man begab sich auf ausgedehnte Radtouren quer durch ganz Europa. Flugreisen waren kein Thema. So bodenständig die beiden wirken, so sind sie auch: «Wir haben in der Luft nichts verloren und nichts zu suchen», sagen sie.
Ist die Hochblüte am welken?
Und heute, wie steht es um die Kundschaft und wer ist diese? «Sie besteht nach wie vor aus alten Fans, auch Familien mit Kindern, mehrheitlich aus den Regionen Winterthur, Rheintal, aus dem Bündnerland, dem Thurgau, Deutschland, den USA.» Von dort kam neulich ein Kunde, beeindruckt vor allem durch den roten «Churchill-Pfeil» von 1946. «Er will seine Bestellung im März abholen», sagt Brunner. Und was kosten diese Trouvaillen eigentlich? «Eine Lok bis zu 4000 Franken, das ist aber selten», erklärt Brunner, «früher galt das übrigens als Kapitalanlage, was man sich inzwischen als Irrtum eingestehen muss.» Trotzdem seien es Sammler- und Liebhaberobjekte geblieben. Dabei nimmt er behutsam den funkelnden «Saurer L4C Alpenwagen Limited Edition Gold» aus dem Karton und lässt ihn im Neonlicht erstrahlen. Den heutigen Stellenwert dieser Branche zu beziffern, sei müssig, angesichts des veränderten Spielverhaltens der Jungen. Die Kinder würden heutzutage kaum mehr auf diesen Zug aufspringen. Und was wünschen sich die Brunners für den Fortbestand ihres Geschäfts? «Solange die Nachfrage besteht, bleiben wir dran, mit Herzblut und Leidenschaft», sind sich die beiden einig. Ab Januar werde man aber vermutlich die Öffnungszeiten etwas reduzieren.