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Eine Tasche gegen Armut und Verschwendung

Die Lebensmittelabgabe der «Tavola» in Arbon verzeichnet einen Zuwachs an Bezügerinnen und Bezügern. Doch die Lebensmittelspenden steigen nicht im selben Ausmass wie der Bedarf.

Kim Berenice Geser

Es ist Freitagnachmittag kurz vor 13 Uhr. Im Vorgarten des blauen Hauses an der Romanshornerstrasse 44 in Arbon türmen sich graue, grüne und braune Kisten. Im Gemeinschaftssaal des ehemaligen Alters- und Pflegeheims der evangelischen Kirchgemeinde, das heute als Flüchtlingsunterkunft dient, herrscht Ruhe vor dem Sturm. Heute findet die wöchentliche Lebensmittelabgabe der «Tavola» statt. Das soziale Engagement wurde 2008 von der Frauengruppe der SP Arbon ins Leben gerufen. Noch heute sind im Kernteam dieselben Personen wie vor 15 Jahren. Eine davon ist Inge Abegglen. Die ehemalige Stadtparlamentarierin und heutige Präsidentin der Kunsthalle Arbon steht zwischen Kisten voller Lebensmittel. «Das ist die erste Lieferung, die wir heute morgen erhalten haben.» Die zweite wird in Kürze eintreffen. «Dann wird es hier hektisch.» Vorher hat Abegglen aber noch Zeit für ein kurzes Gespräch.

90 Taschen pro Freitag

Sie setzt sich an einen langen Tisch vor dem Eingangsbereich. Er wird in wenigen Stunden der administrativen Abwicklung der Lebensmittelabgabe dienen. Auf dem Tisch liegt bereits ein Ordner mit einer Namensliste. «Wir erfassen alle Personen, die bei uns Lebensmittel-Taschen abholen», erklärt Abegglen. Denn man führe Statistiken darüber, wie viele Haushalte wie oft im Jahr Lebensmittel bei der «Tavola» beziehen. «Viele kommen wöchentlich, andere nur einmal im Monat.» Bezugsberechtigt sind alle Personen mit kleinem oder kleinstem Budget. Der Berechtigungsausweis wird bei den Sozialen Diensten Arbon, den Sozialämtern der Nachbargemeinden, bei Sozialberatungsstellen, sowie den beiden grossen Kirchgemeinden ausgestellt. «2022 gaben wir an 3700 Haushalte mit insgesamt circa 11 500 Menschen Lebensmittel ab.» Wer eine Tasche bezieht, bezahlt einen symbolischen Beitrag von einem Franken. «Der Gegenwert der Taschen liegt im Schnitt bei 30 Franken», sagt Abegglen. Jeden Freitag werden rund 90 Taschen abgegeben. «Wir haben das System vor einiger Zeit umgestellt, um die Verteilung fairer zu gestalten.» Während früher die Lebensmittelbeziehenden ihre Säcke selbst füllen konnten, werden diese heute im Vorfeld abgepackt. «So stellen wir sicher, dass möglichst alle von allen Lebensmitteln etwas erhalten.» Die Taschen sind mit der Grösse der Haushalte – eine bis sieben Personen – beschriftet und werden entsprechend gefüllt. Eine faire Verteilung der gespendeten Lebensmittel ist den Verantwortlichen nicht nur wichtig, um Missgunst zu vermeiden, sondern vor allem auch, um aus den Ressourcen das Bestmögliche herauszuholen. «Wir wissen nie, wie viele Lebensmittel wir jeweils erhalten. Manchmal haben wir fast zu viel und manchmal können wir kaum alle Taschen füllen.»

Kleines Budget

Vor allem seit dem Sommer 2022 verzeichnet die «Tavola» einen Anstieg der Beziehenden. «Anfang 2023 ist uns die Nachfrage fast über den Kopf gewachsen», erinnert sich Abegglen. Die Gründe dafür seien vielfältig und nicht nur mit dem Ukrainekrieg zu erklären. «Unsere Bezüger haben unterschiedlichste Nationalitäten, von der Schweiz über die Türkei, den Iran, Irak und Afghanistan.» Steigende Lebenshaltungskosten, Strompreise und Krankenkassenprämien spielen ebenso eine Rolle wie weltweite Krisenherde und die damit verbundene Zahl geflüchteter Menschen. «Die Lebensmitteltasche vermag eine Familie nicht eine ganze Woche zu versorgen, aber sie kann ein wichtiger Zustupf sein.» Während Abegglen erzählt, treffen nach und nach die Helferinnen und Helfer ein. Pro Freitag sind es sechs Personen, welche die Lebensmittelabgabe betreuen. Insgesamt umfasst das Helfenden-Netzwerk der «Tavola» knapp 30 Personen, darunter Berufstätige, Pensionärinnen, IV-Beziehende und Bewohnende des Asylheims. «Sie erhalten von uns eine kleine Entschädigung von zehn Franken pro zwei Stunden geleisteter Arbeit.» Wie der Franken für die Tasche sei auch dies ein symbolischer Beitrag, «aber es soll eine Wertschätzung ihres Engagements sein». Die «Tavola» erhält finanzielle Unterstützung von der Stadt Arbon, den Gemeinden Horn, Roggwil und Neukirch-Egnach und der evangelischen und katholischen Kirchgemeinde Arbon, sowie spontane Zuwendungen von Stiftungen und Privatpersonen. «Wir haben ein Jahresbudget von 6500 Franken, darin ist alles enthalten: Miete, Versicherungen, Bürobedarf, die Entschädigung der Helfenden und der Mitarbeiteranlass.» In diesem Moment kommt Hans Abegglen durch die Tür. «Sie sind da.» Gemeint sind die Fahrer der «Schweizer Tafel» mit der zweiten Lieferung für diesen Tag.

«Es ist manchmal erschreckend, was alles weggeworfen würde.»
Helferin Tavola Arbon

Vier Tonnen Lebensmittel am Tag

45 Lebensmittelempfänger – so nennt die «Schweizer Tafel» die Abgabestellen – werden in der Region Ostschweiz jede Woche bedient. Von Montag bis Freitag wird täglich auf drei Touren ausgeliefert. Die Hauptpartner der «Schweizer Tafel» sind «Migros», «Coop», «Aldi» und «Lidl». Hinzu kommen regionale Lebensmittelanbieter wie «Züger» oder «Suttero». «Wir fahren in der Region täglich 95 Filialen an», gibt Silja Tatic, Regionenleiterin der Region Ostschweiz, Auskunft. Insgesamt sammle man so pro Tag 3,5 bis 4 Tonnen Lebensmittel. Rund die Hälfte dieser Lebensmittel geht an gemeinnützige Sozialinstitutionen, der Rest der Abnehmenden sind Lebensmittelabgabestellen wie die «Tavola». «Wobei diese ein Exot ist, weil sie die einzige Abgabestelle mit politischem Hintergrund in unserem Einzugsgebiet ist», führt Tatic aus. Üblicherweise würden die Abgabestellen von Kirchgemeinden aus organisiert. Was auf den ersten Blick nach einer riesigen Menge an Lebensmitteln klingt, ist defacto je länger je weniger. «Seit Covid und dem Ukrainekrieg ist die Nachfrage für unser Angebot immer grösser geworden. Gleichzeitig geht das Spendenvolumen der Filialen zurück.» Diese Entwicklung hänge vor allem von drei Faktoren ab: der stetigen Optimierung des Bestellwesens, dem «to good to go»-Angebot, bei dem Filialen überschüssige Waren zu einem reduzierten Preis kurz vor Ladenschluss abgeben und der Aufhebung der Doppeldatierung von Lebensmitteln. «Die Änderung, dass Lebensmittel nur noch mit ‹mindestens halbar› und nicht auch noch mit ‹zu verkaufen bis› datiert werden, hat gravierende Auswirkungen auf die Menge an Lebensmittel, die wir erhalten», so Tatic. Denn viele Lebensmittel, die sich bis anhin zwischen diesen beiden Daten bewegten, erhält die «Schweizer Tafel» nun nicht mehr rechtzeitig vor dem Ablaufdatum, weil die Anbieter sie bis dahin durch Rabatte oder eben Angebote wie «to good to go» noch rechtzeitig gewinnbringend verkaufen können. «Wir stehen in dieser Warenbewirtschaftung direkt vor dem Biomüll», sagt Tatic lakonisch. Eine besorgniserregende Entwicklung, ist doch davon auszugehen, dass im kommenden Jahr mit dem Anstieg der Krankenkassenprämien und der Strompreise noch mehr Personen auf Angebote wie jenes der «Tavola» angewiesen wären. Davon geht auch Tatic aus. Aber sie wiederholt, was auch Inge Abegglen sagt: «Die Lebensmittelabgabe ist ein Zustupf an andere soziale und finanzielle Angebote, die wir in der Schweiz haben.» Ein Zustupf, der mehr als willkommen ist, weiss Nadine Suhner, stellvertretende Leiterin der Abteilung Soziales/Gesellschaft der Stadt Arbon. «Das Angebot der ‹Tavola› wird von unseren Klientinnen und Klienten sehr geschätzt.» Im letzten Jahr sei man mit dem Kontingent der Berechtigungsausweise sogar an die Grenzen gestossen. Wobei Suhner diese auf den Ukrainekrieg und der Zunahme von Personen mit Schutzstatus S zurückführt. Doch auch abgesehen davon werde das Angebot in den letzten zwei Jahren deutlich besser genutzt. Wie Silja Tatic vermutet auch Suhner einen Zusammenhang mit den steigenden Preisen. «Dass mehr Menschen vom Angebot der ‹Tavola› Gebrauch machen, hängt vermutlich auch mit den steigenden Lebensmittelpreisen zusammen.»

Zeitfenster für Fairness

Inzwischen ist der Transporter der «Schweizer Tafel» ausgeräumt und auf den U-förmig angeordneten Tischen im Gemeinschaftssaal türmen sich Kisten voller Karotten, Gurken, Salat, Kartoffeln, Äpfeln und Kohl. Die Helferinnen und Helfer umrunden die Tische und bereiten die Taschen für die Abgabe vor. Ein Blick auf die Auslage verrät schnell: Von wegen Biomüll. Der Grossteil der Lebensmittel ist noch in einwandfreiem Zustand. «Faulige Beeren oder Gemüse sortieren wir aus», erklärt eine der Helferinnen. Knapp 30 Tonnen Lebensmittel wurden dieses Jahr bis Anfang Oktober dank der «Tavola» in Arbon vor dem Abfall gerettet. «Es ist manchmal erschreckend, was alles weggeworfen würde», fügt eine andere Helferin an. Nachdem alle Taschen gefüllt sind, bleiben immer noch gewisse Lebensmittel übrig, mit welchen die Beziehenden ihre «Einkäufe» ergänzen können. Damit auch hier Fairness herrscht, werden die Beziehenden in Gruppen mit unterschiedlichen Zeitfenstern eingeteilt. «Diese rotieren alle paar Wochen», erklärt Abegglen. Und dann ist auch schon fast 16 Uhr und die ersten «Tavola»-Kunden stehen vor der Tür. Nicht mal zwei Stunden später sind alle Taschen weg und die Tische wieder leer. Nur Brot ist noch übrig. «Das holt ein Anwohner für seine Tiere ab», sagt Abegglen und macht sich ans Aufräumen.

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