Ihnen läuft die Zeit davon
Kim Berenice GeserEin Dienstmädchen mit weisser Haube und gestärkter Schürze eilt gehetzt durch die Arboner Altstadt. Auf dem Arm den Korb für die Besorgungen für ihre Herrschaften. Am Wöschplatz wringen zwei Waschfrauen tratschend Leintücher aus, während drei Strassen weiter eine «Lädelifrau» mit bedrohlich erhobenem Teppichklopfer übers Leben wettert. Es sind Szenen, wie sie in Arbon regelmässig zu beobachten sind. Und nein, wer sich in einer solchen Situation wiederfindet, ist nicht in ein Zeitloch gefallen, sehr wohl aber auf einer Reise in die Vergangenheit. Die Reiseführerinnen, die einen auf den Pfaden zurück in Arbons Historie an der Hand nehmen, sind die Zeitfrauen. Derzeit elf an der Zahl lassen sie die Geschichten der Arboner Frauen zwischen 1839 und 1920 wieder aufleben. Ihre historischen Stadtrundgänge sind längst Kult. Dennoch steht die Zukunft der Vergangenheitserzählerinnen auf der Kippe.
Die Geschichte aus Sicht der Frau
«Wir haben ein Altersproblem», verrät Ursula Gentsch. Zusammen mit Helene Bodenmann, Ursula Meyer und Zita Hartmann ist sie Zeitfrau der ersten Stunde und Mitbegründerin des Arboner Kulturangebots, das 2012 ins Leben gerufen wurde. Nach dem Besuch eines Frauen-Stadtrundgangs in Frauenfeld kam Gentsch nach Hause und dachte sich: «So etwas brauchen wir in Arbon auch!» Gesagt getan, machte sie sich mit ihren Mitstreiterinnen auf. Sie durchforsteten Archive und Museen, führten Gespräche mit Historikerinnen und Zeitzeuginnen und suchten alles zusammen, was sie über Arbons historische Frauenfiguren finden konnten. Ein Unterfangen, das gar nicht so einfach war. «Früher haben Männer über Männer geschrieben. Eine weibliche Geschichtsschreibung gab es lange gar nicht», erklärt Helene Bodenmann.

Doch auf ihren Streifzügen durch die Vergangenheit führten die Frauen Erstaunliches zu Tage. «Die wenigsten wissen zum Beispiel, dass die Gründung der Firma Saurer eigentlich einer Frau zu verdanken ist, Anna Stoffel. Sie arrangierte die Heirat ihrer Tante Pauline mit Franz Saurer und machte ihn mit dem Maschinen-Geschäft vertraut», erzählt Gentsch. Diese Frauen und ihre Leistungen für die Gesellschaft nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, haben sich die Zeitfrauen zur Aufgabe gemacht. Entstanden ist so das Angebot des etwas anderen Stadtrundgangs. An sieben Stationen spielen Frauen Szenen aus der Vergangenheit nach, während die Erzählerinnen diese mit Fakten und Anekdoten anreichern. Das Drehbuch dazu schrieb Schriftstellerin Veronika Merz, die Fakten checkte Historikerin Heidi Witzig. Geplant waren ursprünglich zwei, drei Jahre Spielzeit. «Doch dann ist dieser Zug einfach losgedonnert», erinnert sich Bodenmann.
Junge neue Zeitfrauen gesucht
Noch heute steht ihr das Erstaunen darüber, auf welchen Anklang das Angebot stiess, ins Gesicht geschrieben. Inzwischen bieten die Zeitfrauen jährlich 30 bis 40 Rundgänge, öffentliche und private, an. Sie werden für Jubiläen, Geburtstage und Teamausflüge gebucht, arbeiten mit Museen zusammen und sind sowohl sommers wie winters unterwegs. Inzwischen holt sie allerdings das eingangs erwähnte Alter ein. «Von unseren Erzählerinnen und Spielerinnen sind die meisten über 70 Jahre alt», sagt Gentsch und ergänzt: «Das macht die Identifikation mit gewissen Rollen je länger je schwieriger. Mit 70 spielt sich ein junges Dienstmädchen nun mal nicht mehr gleich überzeugend.» Sie schmunzelt, wird dann sogleich wieder ernst. «Um die Zukunft der Zeitfrauen zu sichern, brauchen wir dringend Nachwuchs.» Historische Vorkenntnisse braucht es dafür keine. «Dafür viel Freude und Lust am Spielen und Erzählen», konstatiert Bodenmann. Pro Vorstellung gibt es ausserdem eine Gage von 30 Franken. Melden können sich interessierte Frauen über zeitfrauen.ch. «Wir haben so viel Herzblut in diese Sache gesteckt», beginnt Bodenmann und Gentsch beendet den Satz: «Es täte weh, wenn wir aufhören müssten.» Doch bis es so weit ist, lassen sich die Frauen wie die historischen Figuren, die sie spielen, nicht unterkriegen. «Wir machen das noch bis wir nicht mehr können.»
Öffentlicher Rundgang
Am Samstag, 13. September, um 10.30 Uhr findet ein öffentlicher Stadtrundgang der Zeitfrauen statt. Start ist beim Nymphenbrunnen (vis-à-vis Jakob Züllig Park) und Schluss ist bei der «Veranda». Der Bummel dauert 1,5 Stunden und kostet 20 Franken pro Person. Anmelden kann man sich bei zeitfrauen@bluewin.ch, Spontanbesuche sind aber auch möglich.