Kampfsport als Bewältigungsstrategie
Laura Gansner«Kommt herein, worauf wartet ihr», ruft Mirhad Babic durch den Trainingsraum an der Brühlstrasse 4 in Richtung Tür, die nun zögerlich geöffnet wird. Nacheinander kommen zwei Jugendliche hinein, laufen fast lautlos über die weichen Trainingsmatten durch den Raum, strecken schüchtern die Hand zur Begrüssung aus, «Hallo» – «Hallo». Würden da nicht Boxsäcke an der Wand hängen, käme man anhand dieser Begrüssung wohl nicht dahinter, dass Nimatullah Samadi und Mübasir Noorzai etwas mit Kampfsport am Hut hätten. Doch seit März trainieren die beiden 17-Jährigen mehrmals wöchentlich in Mirhad Babics UMAC-Gym – eine Abkürzung für United Martial Arts Community – in Arbon. Diese Gemeinschaft ist keine, die einem Wunschszenario entsprungen ist. Denn Babic, Samadi und Noorzai teilen zwar ihre Leidenschaft für den Kampfsport, doch sie alle wären ohne die Erfahrung, aus dem eigenen Land fliehen zu müssen, nicht hier.
Deutschkurs kommt vor Training
Mirhad Babic ist als Kind aufgrund des Jugoslawienkriegs aus Bosnien geflohen, Mübasir Noorzai und Nimatullah Samadi erst vor kurzem aus Afghanistan. Beide sind als unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) nach ihrer Flucht in einer Unterkunft der Peregrina Stiftung in Arbon gelandet.
Die Stiftung war es auch, die den Kontakt zu Mirhad Babic suchte, um insgesamt acht Jugendliche – unter anderem Samadi und Noorzai – für sein Kampfsport-Training anzumelden. «Wir müssen den Deutschkurs besuchen, damit wir teilnehmen dürfen», erklärt Noorzai. Da er schon fortgeschrittener ist in der deutschen Sprache als Samadi, steht er ihm heute als Übersetzter zur Seite. Gemeinsam mit Trainer Babic hilft er Nimatullah Samadi von seinem Weg in die Schweiz zu berichten.
Flucht nach Europa
Ein Jahr lang war Nimatullah Samadi auf der Flucht. Denn die Lage in Afghanistan spitzte sich im Frühling 2021 zu, als die USA und die Nato-Verbündeten ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen hatten. Kurz darauf folgte die Machtübernahme der Taliban, was massive Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung im Land hatte – und noch immer hat. Diese bekam auch Samadi zu spüren. So durfte er schon bald nach der Etablierung des Taliban-Regimes die Schule nicht mehr besuchen, weil dies nur noch «hochrangigen Personen» zustand. Damit arrangierte er sich irgendwie. Er arbeitete auf einem lokalen Markt und entdeckte durch ein Martial Arts Studio die Freude am Kampfsport. Doch dann folgte der politische Zwang, sich zum Regime zu bekennen. Dies war für Samadi ausschlaggebend, um nach Europa zu fliehen. Er floh über den Iran, wurde in Europa von Land zu Land weitergereicht, bis sein Asylantrag in der Schweiz bewilligt wurde. Seit Anfang Jahr lebt er nun hier. An der Ausführlichkeit der beiden Erzähler merkt man, dass ihnen die Geschichte Samadis vertraut ist. Erst auf die Frage: «Wie erlebst du die Schweiz?» stossen alle drei an sprachliche Grenzen.
Drei Dolmetscher
Nimatullah Samadi bricht in einen Redefluss in Afghanisch aus, den Mübasir Noorzai händeringend mit einem kurzen «Hier ist es besser» übersetzt. «Alles ist gut», schiebt Samadi nach. Mirhad Babic, der die Wortnot der beiden Jugendlichen erkannt hat, schlägt vor: «Ruft Hadi an.» Sogleich wird das Handy gezückt, am anderen Ende nimmt Hadi Hassani ab – ebenfalls ein Mitglied im UMAC-Gym, ebenfalls aus Afghanistan geflüchtet. Er ist jedoch schon seit mehreren Jahren in der Schweiz und dementsprechend versiert in der deutschen Sprache. Samadi und Noorzai sprechen durcheinander auf Afghanisch in das Mobiltelefon hinein, Hassani übersetzt auf Deutsch: «In Afghanistan würde ihnen vieles im Leben verunmöglicht werden, hier haben sie ganz andere Möglichkeiten, sich zu verwirklichen.» Beide haben eine konkrete Vorstellung von dieser Verwirklichung. Beide wollen Automobil-Mechatroniker werden. Samadi hat noch einen Wunsch mehr: Er will später einmal Kampfsport-Trainer werden, «für Leute, die arm sind». «Inshallah» – zu Deutsch: so Gott will – reagiert Mirhad Babic auf diese Übersetzung und schlägt lachend mit seinem Zögling ein. Er ist vollauf begeistert von Samadis Bestrebungen. Dem war nicht von Anfang an so.
Wo Wut zu Gelassenheit wird
Der Anfrage der Peregrina Stiftung, die Jugendlichen zu trainieren, stimmte Babic grundsätzlich gerne zu. Schliesslich hat er selbst erlebt, wie Kampfsport einen verändern kann. Aus seiner eigenen Fluchterfahrung erzählt er: «Gewalt hat mich geprägt, ich war mir sicher, dass ich mich für immer werde verteidigen müssen.» Deshalb fing er mit dem Kampfsport an. Zu seinem eigenen Erstaunen wandelte sich dabei sein Zorn zu Gelassenheit. «Vor allem, weil ich einen grossartigen Meister hatte.»
Um dasselbe für andere zu sein, gründete er das UMAC-Gym, welches heute rund 100 Mitglieder hat, unter anderem eben auch Samadi. «Nimatullah wollte von Anfang an an Wettkämpfen teilnehmen», berichtet Babic. Diesem Wunsch begegnete er mit Vorsicht, ist ihm die Art von Gewalt, der Samadi entflohen ist, doch selbst bekannt. «Es ist eine Sache, seine Wut an einem Boxsack auszulassen; eine ganz andere aber, fair mit einer anderen Person im Ring zu kämpfen.» Also wollte er dem Wunsch des Jugendlichen auf den Zahn fühlen – und stiess auf einen jungen Mann, der ihn stark an sich selbst erinnerte. «Als ich von ihm hörte, dass er einmal so etwas aufbauen möchte wie ich und deshalb so gut werden will, hatte er mich für sich gewonnen.» Fast unbemerkt hat sich gegen Ende des Gesprächs der Trainingsraum mit Mädchen gefüllt, deren Yoga-Stunde gleich beginnt – das UMAC-Gym teilt sich seine Räumlichkeiten mit einem Yoga Studio. Mit den Worten: «Wir trainieren später noch» schickt Babic seine beiden Nachwuchs-Sportler hinaus, die sich nach der Verabschiedung genauso vorsichtig aus dem Raum bewegen, wie sie ihn betreten haben.