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Minus mal minus gleich Plus

Diese Formel trifft ganz besonders auf Marlies Gehrer zu, welche im zarten Alter von 11 Jahren erstmals das Gefühl erlebte, ins Bodenlose zu stürzen – um dann im freien Fall zu erkennen, dass sie eigentlich nur in Gottes Hand landen konnte.

Alice Hofer

«Ich blicke auf ein gutes Leben», resümiert Marlies Gehrer: «meine glückliche Heirat, drei wunderbare Kinder, alles bestens. Das grösste Geschenk empfing ich allerdings, als meine lange, verzweifelte Suche nach Gott endlich beendet war.» Die damals knapp Zwanzigjährige hatte eine Odysee hinter sich und begriff auf einmal, wie sehr sie vom christlichen Glauben getragen wurde und wie wichtig ihr die Beziehung zu Gott war – und immer noch ist. «Es gab dieses traumatische Erlebnis in meiner Kindheit», erzählt Marlies Gehrer «als wir unser ‚Müeti‘ eines Nachts in lebensbedrohlichem Zustand vorfanden. Sie hatte wohl versucht, sich das Leben zu nehmen, konnte sich jedoch später an nichts erinnern. Wir mussten sie von der Ambulanz abholen lassen und hatten keine Gewissheit, ob sie durchkommen würde. Während ihres längeren Aufenthalts in der Klinik durften wir sie nicht einmal besuchen. Es war hart, diese zermürbende Rätselhaftigkeit auszuhalten.» Sie erinnert sich im Detail: «Aus der wohl behüteten, harmonischen und glücklichen Kindheit wurde im Handumdrehen ein Alptraum! Meine heile Welt war kaputt, nachdem Müeti sich kommentarlos verabschiedet hatte.» Ein halbes Jahr lang kutschierte die Familie ohne sie; man konnte zwar eine Haushaltshilfe engagieren, die tagsüber das Nötige besorgte. Jedoch waren diese Monate geprägt von Unsicherheit, Hemmungen und den alles überstrahlenden Fragen: «Warum? Wo war der liebe Gott, als er gebraucht wurde?» Als die Mutter zurück kam, brauchte sie viel Betreuung, und nun musste die kleine Marlies sozusagen die Rollen tauschen. Sie entwickelte eine Sprachstörung und konnte nicht mehr reden. Mit Hilfe einer Logopädin fand sie ihre Stimme wieder. Was blieb, war ein grundsätzliches Misstrauen – in den «Allmächtigen», der ja eben gerade nicht über sie gewacht hatte, und in die Menschen gemeinhin. Der Vater war ebenfalls überfordert, und die Pubertät machte es auch nicht leichter; es folgten holprige Jahre als verlorenes Kind auf der Suche nach irgendeinem Halt. Mit Gott stand sie im Konflikt, war wütend auf ihn und wusste nicht weiter.

Die Erlösung

Eines schönen Tages wurde ihr klar, dass Gott keine Schuld trägt, sondern, dass wir selber frei wählen, auf welcher Seite wir wandeln. Ihr fiel ein schwerer Brocken vom Herzen. «Ich war endlich angekommen!» erklärt sie, «es war so befreiend!» Sie begann eine theologische Ausbildung und empfand das grosse Bedürfnis, andern zu helfen. So lernte sie noch Pharma-Assistentin/Pflegefachfrau. «Ich fühlte mich von Gott bedingungslos geliebt und wollte diese Liebe unbedingt weitergeben», schwärmt sie, «und zwar soweit, dass ich ein ausgeprägtes Helfer-Syndrom entwickelte, was mir in kritischer Selbstreflexion dann auch bewusst wurde.» Deshalb liess sie sich als 40-Jährige noch zur Seelsorgerin ausbilden, arbeitete später als Palliativ-Betreuerin und begleitete unzählige Menschen persönlich bis über die Schwelle in die geistige Welt. «Die Arbeit mit Schwerstkranken war hart und herausfordernd, bereitete mir jedoch grosse Freude», bekennt sie. Das ursprüngliche Trauma wurde schliesslich zum Diamanten, der nun ihr unerschütterliches Vertrauen widerspiegelt: «Inzwischen sind alle Wunden verheilt, ich habe mich mit den Ereignissen versöhnt. Ich sehe mich auch nicht mehr als Opfer; ich war niemals allein, Gott war stets mit dabei, was ich damals halt nur nicht gesehen hatte.» Und was möchte Marlies Gehrer der jungen Generation mit auf den Weg geben? «Sucht Gott so früh wie möglich, damit das Leben zu einem grossen Abenteuer wird, und damit ihr ziel- und sinnorientiert lebt.»

Menschen erzählen ihre Geschichten

In der Serie «Lebenslinien» laden wir die ältere Leserschaft (ab 65 Jahren) zum Gespräch ein. Erzählen Sie uns Ihre Erlebnisse, Einsichten und Weisheiten. «felix.»-Reporterin Alice Hofer besucht Sie gerne in Ihrem Daheim. Die Porträts erscheinen in lockerer Reihenfolge in dieser Zeitung. Wenn auch Sie etwas aus Ihrem Nähkästchen plaudern wollen, melden Sie sich bei uns per Mail an hofer@mediarbon.ch oder unter 071 440 18 30.

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