Mit der Kutsche hoch hinaus
Alice Hofer«Wir lieben es, hier oben zu sein, die Ruhe und der Frieden sind einmalig», schwärmen die Sporrädlis. Genauso ist auch der Ausblick über Land und See, bis nach Friedrichshafen und Bregenz, unter endlosem Himmel. Das Anwesen thront am Hügel inmitten von Obstbäumen und Wiesen, die einzigen Geräusche sind die schnatternden Gänse und das gelegentliche Schnauben der Pferde. Margrit Sporrädli sagt: «Wir waren sofort begeistert von dieser Schönheit.» Inzwischen leben drei Pferde hier, der Freiberger Fuchs Natif sowie die beiden Schwarzbraunen Cyrano und Bellini; letzterer wurde unlängst zur Ausbildung nach Österreich geschickt, um herauszufinden, wozu er sich am besten eignen würde: Springen, Reiten, oder Ziehen? Das wird sich zeigen, vermutlich binnen eines halben Jahres. «Bei Regen dürfen die Pferde nicht raus auf die Weide, weil sie die im Handumdrehen ruinieren würden, wenn der Boden aufgeweicht ist», erklärt Sporrädli. So stehen sie halt irgendwie gelangweilt und doch majestätisch im Unterstand, bedeckt mit leichten Mäntelchen gegen Kälte, Nässe und Dreck. Albert und Margrit Sporrädli geben Einblick in ihren Wagenpark, besser gesagt, Kutschenpark, einer Vielzahl von Ein- und Zweispännern quer durch alle Epochen. Beim Betrachten der unglaublich vielen verschiedenen Modelle kann man beinahe die Erfindung des Rades nachvollziehen. Ob es sich hier um historische, nostalgische oder einfach um emotionale Werte handelt, lässt sich nur vermuten, aber für jeden Sinn und Zweck gab es früher ein Gefährt: Feuerwehr mit Schläuchen, Gulasch-Kanone mit Gamellen, Jauchewagen, Säh-Kasten inklusive Gebrauchsanweisung für die diversen Getreide und den sogenannten «Doktor-Wagen» mit Instrumentenkasten.
Triumph und Trophäen
Zweifellos sind auch einige sehr kostbare Objekte dabei, die das Herz jedes leidenschaftlichen Sammlers höher schlagen lassen: Ein Zweisitzer «Mylord», primär erfunden und entwickelt für die Damen, damit diese mit ihren ausladenden Röcken leichter einsteigen und hinter dem Kutschbock auf bequeme Weise in gepolsterten Ledersesseln reisen konnten. Daneben steht eine imposante Herrenkutsche «Phaeton», benannt nach dem Sohn des griechischen Sonnengottes Helios. Die Legende besagt: Phaeton erdreistete sich, den kostbaren, teuren Sonnenwagen des Vaters zu lenken und verlor alsbald die Kontrolle über das Viergespann. Seine Irrfahrt hatte eine katastrophale Feuersbrunst zur Folge, die angeblich zur Entstehung der Sahara führte. Phaeton verstarb noch auf der Unfallstelle und verwandelte sich in einen Stern, heute bekannt als Apollo-Asteroid 3200. Wie dem auch sei, die Bauweise des Phaeton ermöglicht der Herrschaft, selber zu lenken, während hinten ein aufklappbarer Sitz für den Diener verfügbar ist.
«Nur so zum Flanieren fahre ich nirgendwo hin.»
Ein absoluter Hingucker ist der «Break» aus Nussbaum, elegant geschwungen und verkuppelt, mit grossen Rädern aus Hickory-Holz, dessen stabile Qualität sehr geeignet ist für die schmalen, eleganten Speichen. Manche der Radkränze sind noch mit Eisen umgeben, andere bereits mit Gummi. «Die Pneus ergeben ein weicheres und ruhiges Fahren», erklärt Sporrädli, «das war ab 1850 in den Grossstädten wie Paris und London beliebt, weil es deutlich weniger Geräusche machte als die Metallbeschläge.» Hier spricht der Fachmann, der es wissen muss: Seit rund 15 Jahren behauptet er sich an internationalen Wettbewerben, in Italien, Frankreich, Deutschland, acht bis zehn Mal pro Saison, von März bis November. Es nehmen jeweils 30 bis 50 Gespanne teil, und meistens bringt er Trophäen nach Hause: In der Regel landet er auf einem Podestplatz. Ob es eigentlich Preisgeld, oder eher Pokale gäbe, will ich wissen. «Kein Geld», winkt Margrit Sporrädli ab, «und auch Spesen werden nicht vergütet. Man macht sowas aus reiner Freude beziehungsweise aus Ehrgeiz.»
Margrit und Albert Sporrädli – ein Leben angetrieben von Wind und Pferdestärke
Das vitale Paar hatte sich in den späten Sechzigern kennengelernt, als er seine Lehre als Zimmermann abschloss. Der Stundenlohn im ersten Lehrjahr betrug 1 Franken, im zweiten Lehrjahr 1,20 Franken, und dank seiner ausgezeichneten Leistung wurde er im dritten Lehrjahr mit dem überdurchschnittlichen Monatsgehalt von rund 1200 Franken honoriert. Nach einiger Zeit Berufserfahrung und Militärdienst entschied er sich, das Angebot zur Fahrlehrer-Ausbildung anzunehmen und fuhr nebenher für Taxi-Bereiter Rorschach. Margrit arbeitete ebenfalls dort und so begann man, sich mehr und mehr zu ergänzen. 1971 machten sich die beiden selbständig mit ihrer eigenen Fahrschule. «Der Betrieb florierte bald und es lief sehr gut», erzählen sie. Den Ausgleich zum Strassenverkehr fanden die Sporrädlis auf dem Segelboot: Am Freitag nach Feierabend ging es ab auf den See, am Montag Morgen kamen sie zurück zur Arbeit. Schliesslich erwarb Albert Sporrädli noch das Hochsee-Brevet, um weitere Klippen elegant zu umschiffen. In den Ferien erkundeten sie fortan Neuland in der Ostsee, Nordsee und Karibik. Geblieben sind Pioniergeist, Leidenschaft und die Begeisterung für ihre geliebten Pferde.

An den Wänden prangen denn auch unzählige Auszeichnungen und Plaketten aller Art. Und dazu haben sie eine lückenlose Auswahl an Equipment, von den Rädern, Achsen, Speichen, Sitzen bis zum passenden Geschirr, das dem Zugpferd angelegt wird. Als Albert Sporrädli erstmals in Mailand erschien, an einem internationalen Richtertreffen, wählte er das Attribut «Schweizerisch», und zwar konsequent von der Herkunft des Holzes über Nabe und Geschirr bis hin zum gesamten optischen Ausdruck. Er legt sich gerne ins Zeug, wenn es um Stil geht, und auch die Garderobe wird nicht dem Zufall überlassen: Bei Turnieren präsentiert er sich im Beinkleid mit Zylinder, seine Begleiterin auf dem Kutschbock im adäquaten Kleid mit Hut, selbstverständlich aus der richtigen Epoche. Es ist also ein eher teures Hobby, noch dazu ein rar gewordenes: «Nur eine Handvoll solcher Angebote gibt es noch in der Schweiz», erklärt Margrit Sporrädli, «während wir nach wie vor Hochzeitsfahrten durchführen. Ich schmücke jeweils das Gefährt mit Blumen nach Wunsch der Kundschaft, während mein Mann den Wagen makellos poliert.» Im Kinofilm «Friedas Fall» (2024) hatte Albert Sporrädli ebenfalls einen bemerkenswerten Auftritt: In historischer Aufmachung führt er Pferd und Wagen mit sicherer Hand durch die St. Galler Kulissen.
Wie es soweit kommen konnte
Ende der Achtziger Jahre folgte Sporrädli dem Impuls seines Kollegen Alex Haldemann, spontan nach Redding in Grossbritannien zu fliegen, um an einer Auktion in Ascott teilzunehmen. Im Angebot standen rund 120 Wagen und sämtliches nur erdenkliche Zubehör inklusive Geschirr und Schrauben, welche man sonst nirgends einzeln kaufen kann. Das Ereignis hinterliess bleibende Eindrücke: Ein Jahr später brausten die beiden zur nächsten Auktion nach Schweden, wo sie in Stockholm zufällig auf den royalen Stallmeister trafen, der ihnen das königliche Gestüt zeigte und sie durch die hoheitlichen Ställe führte. «Es gab goldene Kutschen, goldenes Geschirr und natürlich prächtige Pferde», erinnert sich Sporrädli mit leuchtenden Augen.

So richtig auf den Geschmack kam er dann 2012, bei seinem ersten internationalen Turnier in Cuts, Nähe Paris. Er erreichte den Dritten Rang, was seinen Ehrgeiz dermassen anstachelte, dass er sich seither meistens auf den Podesten wiederfand. «Nur so zum Flanieren fahre ich nirgendwo hin», meint er lakonisch, «es muss schon ein Wettbewerb sein, damit es mir passt.» Ein Jahr später folgte er der Einladung zum jährlichen Turnier im französischen Compiègne – et voilà, deuxième rang. Danach gab es für ihn kein Halten mehr. Und im Herbst 2024 brillierte er in Italien gleich doppelt, nämlich als «Bestes Gespann» und auch noch als «Beste Leistung im Einspänner». Für Albert Sporrädli sind diese Erfolge, die sich fast routinemässig aneinanderreihen, eine Art Lebenselixier. Er blickt bereits dem 80. Geburtstag entgegen und zeigt keinen Hauch von Ermüdung. Ungeduldig wartet er auf die nächsten Gelegenheiten, gekonnt aufzufahren. Margrit Sporrädli freut sich ebenso darauf. Und als hätten die Pferde uns belauscht, schmiegen sich Natif und Cyrano an ihre Besitzer, gähnen und träumen wohl davon, in den Sonnenuntergang zu galoppieren.
Menschen erzählen ihre Geschichten
In der neuen Serie «Lebenslinien» lädt «felix. die zeitung.» die ältere Leserschaft (ab 65 Jahren) zum Gespräch ein. Erzählen Sie uns Ihre Erlebnisse, Einsichten und Weisheiten. «felix.»-Reporterin Alice Hofer besucht Sie gerne in Ihrem Daheim. Die Porträts erscheinen in lockerer Reihenfolge in der Zeitung. Wenn auch Sie etwas aus Ihrem Nähkästchen plaudern wollen, melden Sie sich bei uns per Mail an hofer@mediarbon.ch oder telefonisch unter 071 440 18 30.