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Von seinen 23 Jahren als Berzirksrichter amtierte Ralph Zanoni am Bezirksgericht Arbon 20 Jahre lang als Präsident.

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«Vor Strafe ist niemand gefeit»

Nach 35 Jahren am Bezirksgericht Arbon tritt Ralph Zanoni Ende Mai in den Ruhestand. In seinem Abschlussinterview erzählt er, weshalb er sich so kurz vor seiner Pensionierung dem Fall Hefenhofen angenommen hat und wie nahe sich die Berufe eines Richters und eines Paartherapeuts sind.

Laura Gansner

Ralph Zanoni, nach zwölf Jahren als Gerichtsschreiber und 23 Jahren als Bezirksrichter in Arbon treten Sie Ende Monat Ihre Pensionierung an. Weshalb haben Sie sich so kurz davor noch einem solch komplexen Fall wie dem Fall Hefenhofen angenommen?

Es ist nicht so, dass wir Bezirksrichter uns die Fälle jeweils selbst auswählen. Die Fallverteilung wird vom amtierenden Präsidenten, aktuell der amtierenden Präsidentin vorgenommen. Dabei ist ein wichtiges Kriterium, wer wie gut mit der Vorgeschichte eines Falles vertraut ist. So wurde der Fall von ihr an mich herangetragen. Da wir davon ausgingen, diesen noch vor meiner Pensionierung abschliessen zu können, übernahm ich ihn auch.

In einem so öffentlichkeitswirksamen und medial breit diskutierten Fall wie dem Fall Hefenhofen: Wie macht man sich als Richter frei von der durch die Öffentlichkeit vertretenen Meinung, um möglichst unbefangen zu einem Urteil zu gelangen?

Man muss abstrahieren können. Das ist eine Grundvoraussetzung für alle Richterinnen und Richter. Man sollte keine eigenen Emotionen in den Fall hineinmischen. Klar kann man diese nicht ausblenden, aber man muss sich klar abgrenzen können. Der Fall Hefenhofen war sicherlich ein stark emotional aufgeladener Fall. Deshalb haben wir uns bei der mündlichen Eröffnung des Urteils viel Zeit genommen, dieses zu erklären. Damit es eben nicht nur Juristinnen und Juristen, sondern möglichst alle nachvollziehen können.

«Ob der Schein dem Sein entspricht, kann man erst wissen, wenn man alle Parteien angehört hat.»
Ralph Zanoni

Also haben Sie bewusst Rücksicht genommen auf die Stimmung in der Öffentlichkeit?

Ja, ich glaube, es ist wichtig die Gefühlslage der Bevölkerung ernst zu nehmen und nicht so zu tun, als würden wir unser Urteil in einem luftleeren Raum fällen. Damit tritt man gewissermassen in eine Interaktion mit dem Publikum, um aufzeigen und hoffentlich verständlich machen zu können, was hinter dem Urteil des Gerichts steckt.

Sie sprechen von einer Abgrenzung der eigenen Emotionen und gleichzeitig davon, die Gefühle nicht komplett aussen vor zu lassen. Wie gelingt dieser Balanceakt?

Als Richter ist einem bewusst, dass man immer alle anhören muss. Ob der Schein dem Sein entspricht, kann man erst wissen, wenn man alle Parteien angehört hat. Damit gewinnt man auch eine gewisse Ruhe, wenn eine Seite mit ihrer Sichtweise kommt. Man weiss: Wir schauen uns das jetzt erst einmal an und prüfen, wie es sich im Licht der anderen Seite verhält – und umgekehrt. So kann jedem und jeder mit einer gewissen Empathie begegnet werden, ohne jedoch das Urteil davon trüben zu lassen. Aber klar gibt es immer Fälle, bei denen das Heraushalten der eigenen Gefühle sehr schwierig wird.

In welchen Fällen trifft das zu?

Primär in Fällen, in denen Kinder involviert sind. Ich spreche hier von Missbrauchs-Fällen, aber auch von Fällen, in denen man sieht, wie Kinder zum Objekt von Scheidungskriegen gemacht werden. Die Eltern mögen dann zwar das «Wohl der Kinder» auf den Lippen haben, aber der Rosenkrieg zwischen den Parteien zeugt von etwas anderem. Und natürlich sexuelle Delikte. Da ist man mit dem Leid einer Person konfrontiert, welches nicht nur auf den Vorfall beschränkt ist, sondern die Betroffenen oft ein Leben lang als «Hypothek» mittragen.

Von seinen 23 Jahren als Berzirksrichter amtierte Ralph Zanoni am Bezirksgericht Arbon 20 Jahre lang als Präsident.
Von seinen 23 Jahren als Berzirksrichter amtierte Ralph Zanoni am Bezirksgericht Arbon 20 Jahre lang als Präsident.
© Laura Gansner

Das klingt düster

Ja, das ist tragisch, denn das Leid können wir als Gericht nicht korrigieren. Wir können zwar versuchen, ein gerechtes Urteil zu fällen, aber damit ist der «gute Zustand» nicht wiederhergestellt – jedenfalls nicht direkt und auch nicht nur durch unser Urteil. Aber, und darauf hoffe ich jedes Mal, es kann für die Betroffenen vielleicht ein Baustein auf dem Weg zur Besserung sein.

Gerade in Fällen von sexuellen Delikten kommt ein Urteilsspruch aufgrund der Beweislast der Betroffenen oft gar nicht zustande. Opfer können davon abgeschreckt werden, überhaupt bis vor Gericht zu gehen. Kann ein Gerichtsprozess den Betroffenen trotz diesen Aussichten dennoch etwas bringen?

Das ist schwer zu sagen. Nach der Eröffnung eines Urteils sehe ich die betroffenen Parteien nicht mehr. Eine direkte Rückmeldung, was das Urteil auslöst, haben wir deshalb nicht. Aber einen Eindruck schon. Teilweise kann die Anerkennung des Leids schon viel bewirken, selbst in Fällen, in welchen die angeklagte Partei in dubio pro reo, also im Zweifel für den Angeklagten, freigesprochen wird. Wenn das Opfer hört, dass wir es ernst genommen haben, kann das bereits helfen. Auch wenn wir ihm vermitteln: Wir können den Angeklagten aufgrund fehlender Beweise zwar nicht verurteilen, aber wir negieren damit nicht die Darstellung der oder des Betroffenen. Ausserdem kann ein Gerichtsprozess für einen mutmasslichen Täter schon auch ein Warnschuss sein, selbst wenn er nicht verurteilt wird. Denn teilweise wird den Angeklagten erst durch den Prozess bewusst, welch tiefgreifende Konsequenzen ihre Handlungen haben.

«Vielfach geht es nicht um Lügen, sondern um unterschiedliche Wahrnehmungen.»
Ralph Zanoni

Zuvor haben Sie die mündliche Urteilsbegründung im Fall Hefenhofen erwähnt. Als wie wichtig nehmen sie diesen Teil des Gerichtsprozesses wahr?

Das ist fast das Wichtigste. Gerade auch bei einem Freispruch, der aufgrund ungenügender Beweise für eine Verurteilung zustande kommt. Natürlich nützt es nicht immer gleich und teilweise sind die Angeklagten mit einer Verurteilung auch nicht einverstanden. Aber ich bin überzeugt, dass es bei 95 Prozent eine Wirkung hat.

Sie haben bereits zwei Mal den Freispruch aufgrund mangelnder Beweise angesprochen, was darauf schliessen lässt, dass Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeutet. Wie nahe kommen wir mit dem Schweizer Recht der Gerechtigkeit?

Ich denke, dass es im Normalfall möglich ist, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, wenn man die unterschiedlichen Parteien ernst nimmt und ihnen zuhört. Immer wieder stelle ich fest, dass es gut tut, wenn die Parteien gegenseitig hören, was sie zur Angelegenheit zu sagen haben. Denn vielfach geht es nicht um Lügen, sondern um unterschiedliche Wahrnehmungen.

Können Sie das ausführen?

Oft können die Parteien alleine nicht mehr miteinander reden und landen deshalb bei uns. Wir als Gericht können unsere neutrale Position nutzen, um ihnen zu spiegeln, was ihr Verhalten beim Gegenüber ausgelöst hat. Besonders bei Familienangelegenheiten ist dies wichtig, denn so kann Rücksicht darauf genommen werden, wie die Beziehung gelebt wurde. Und da ist jedes Beziehungsgefüge anders. Ich habe über Hunderte von Ehen geschieden und keine war gleich wie die andere. Das ist für mich als Aussenstehender immer interessant und ich habe so schon einiges über meine eigene Beziehung zu meiner Frau gelernt.

«Ich freue mich vor allem darauf, alles gemächlicher nehmen zu können», erzählt Ralph Zanoni über die bevorstehende Pensionierung.
«Ich freue mich vor allem darauf, alles gemächlicher nehmen zu können», erzählt Ralph Zanoni über die bevorstehende Pensionierung.
© Laura Gansner

Wenn Sie das so beschreiben, könnte man Sie schon fast für einen Paartherapeuten halten.

(lacht) Manchmal sind wir das fast. Wir therapieren natürlich nicht, oft begleiten wir die Paare ja auch nur über kurze Zeit. Aber teilweise nutzen wir dabei unsere Chance, um eine Änderung der Haltung anzustossen, besonders zugunsten vorhandener Kinder. Aber auch für das Paar, so dass beide Seiten abschliessen können und keinen «Krieg» weiterführen müssen.

Sprechen wir noch über etwas anderes: Gefängnisstrafen. Zwischen einer Straftat und einem Urteilsspruch und damit einer allfälligen Gefängnisstrafe kann viel Zeit vergehen. Kann im Urteilsspruch berücksichtigt werden, wenn eine angeklagte Person in dieser Zeit «ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen hat»?

Das hängt in erster Linie von der Art des Delikts ab. Wenn das Strafmass bei über drei Jahren Freiheitsstrafe liegt, gibt es keine Option eines bedingten oder teilbedingten Vollzugs. Darunter schon und da darf auch berücksichtigt werden, wenn eine Person «geläutert» scheint und ihrem Leben eine sichtbare Wendung ins Positive gegeben hat. Dabei stellt sich selbstverständlich immer die Frage der Bewertung: Wie entscheidet man, ob der Läuterung zu glauben ist? Gerade in solchen Fällen ist es gut, dass drei oder fünf verschiedene Richter den Fall bewerten. Wenn dann alle einen positiven Eindruck haben, gibt das eine gewisse Sicherheit, wenn man ein milderes Strafmass anwendet. Aber eine Gewissheit hat man natürlich nie.

Ganz grundsätzlich: Erfüllen Gefängnisse tatsächlich den Zweck, nach dem Gefängnisaufenthalt ein straffreies Leben führen zu können?

Das kommt ganz drauf an. Es gibt natürlich Leute, die im Gefängnis noch stärker mit kriminellen Kreisen in Berührung kommen und damit weiter auf die schiefe Bahn geraten. Aber andererseits gibt es viele, die im Gefängnis selbst merken: Ich muss meinem Leben jetzt eine Wendung geben.

«Gerade für Kinder und Jugendliche halte ich es für relevant, dass sie möglichst früh mit den – noch harmlosen – Konsequenzen der eigenen Handlungen konfrontiert werden.»
Ralph Zanoni

Also eine sehr individuelle Sache?

Klar. Auf jeden Fall ist es nicht so, dass Gefängnisse nichts nützen. Manchmal geht es auch schlicht darum, die Gesellschaft vor einer Person zu schützen. Aber, solange es sich nicht um eine Verwahrung handelt, ist eine Gefängnisstrafe auch immer mit einem Ablaufdatum versehen. Darum kann man sich dann auch nicht darauf ausruhen, sondern muss auf das Ziel hinarbeiten, der Person nach dem Strafvollzug eine Integration in die Gesellschaft möglich zu machen. Aber natürlich sind auch danach nicht alle nette Leute. Das zu behaupten wäre eine Verkennung der Wirklichkeit. Aber manche Menschen können wir auch auf einem «netteren Weg» nicht verändern.

Was meinen Sie mit einem «netteren Weg»?

Dass ein bisschen gut zureden helfen würde. Das reicht halt nicht immer. Manche Leute brauchen eine gewisse Strenge. Das gilt ja auch im aussergerichtlichen Rahmen. Gerade für Kinder und Jugendliche halte ich es für relevant, dass sie möglichst früh mit den – noch harmlosen – Konsequenzen der eigenen Handlungen konfrontiert werden. Je früher dies geschieht, desto eher sind sie später in der Lage, in herausfordernden Situationen schwerwiegende Konsequenzen abschätzen und vermeiden zu können.

Das hört sich an, als könnte man Kinder zu straflosen Bürgern erziehen. Kann man denn straffrei durchs Leben gehen?

(schmunzelt) Vor Strafe ist niemand gefeit. Es ist wohl auch eine Illusion, dass der Mensch von Geburt bis ins Grab ständig lieb und nett ist. Aber das Leben besteht daraus, Erfahrungen zu sammeln. In einem gewissen Rahmen ist es deshalb auch okay, sich dabei einmal die Finger zu verbrennen.

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