«Wir brauchen die Zuwanderung»
Kim Berenice GeserLetztes Jahr malte die Industrieund Handelskammer Thurgau ein düsteres Zukunftsbild. Heute heisst es, der Abwärtstrend konnte weitestgehend aufgefangen werden. Wie ist die wirtschaftliche Lage aktuell bei den AVA-Mitgliedern?
Dennis Reichardt: Wir haben ganz unterschiedliche Felder und man kann nicht per se sagen, es geht allen gut oder schlecht. Aufgrund dessen, dass wir in der Region breit diversifiziert sind, geht es uns im Grossen und Ganzen nicht schlecht. Der inländische Markt funktioniert. Die Exportindustrie, hauptsächlich die nach Deutschland, darbt hingegen extrem. Dort wird sich zeigen, wie schnell die deutsche Politik ihre Probleme lösen kann. Das ist meines Erachtens das grösste Thema, das uns aktuell regional beschäftigt. Denn unsere Exportindustrie in der Region ist vor allem automotiv unterwegs. Da ist der Druck sehr hoch.
Und wird durch den starken Schweizer Franken zusätzlich erhöht.
Ja, wobei dieser durch Inflation und Teuerung der umliegenden Länder etwas abgefedert wird. Dennoch darf man die Situation nicht unterschätzen. Wie gesagt, der Druck auf die betroffenen Unternehmen ist gross, ihre Effizienz so zu steigern, dass sie ihre Produkte weiterhin kostendeckend verkaufen können. Ich bin dennoch zuversichtlich, dass Industrie und Gewerbe diese Herausforderungen packen.
Wie stark wiegen die Folgen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs heute noch?
Ich denke, wir alle spüren in der Wirtschaft den Corona-Effekt.
Den Corona-Effekt?
Während der Pandemie und des Ukraine-Kriegs kam es zu Unterbrüchen in den Lieferketten. Als Folge davon stockten viele Unternehmen ihre Lager auf. Es kam zu einem Nachfrage-Schub, was die Lieferketten-Problematik natürlich zusätzlich verstärkte. Inzwischen hat sich diese Situation wieder entspannt, dafür schlägt das Pendel nun in die andere Richtung aus: Die Lager sind voll und die Zulieferer bleiben auf ihren Waren sitzen.
Was braucht es, damit sich die Lage wieder einpendelt?
Zeit. Sofern weltwirtschaftlich nicht wieder etwas derart Drastisches passiert. Gleichzeitig müssen wir uns der Tatsache stellen, dass es keine Rückkehr zur Zeit vor Corona gibt. Sowohl die Pandemie als auch der Ukraine-Krieg hatten und haben nachhaltige Auswirkungen auf verschiedene Branchen. Das «Normal», das wir kannten, wird es nicht mehr geben. Wir müssen uns der Situation anpassen und einsehen, dass wir uns heute nicht mehr darauf verlassen können, dass etwas, was 20 Jahre Bestand hatte, dies auch noch weitere 20 Jahre haben wird.
Bestand haben wird indes der Fachkräftemangel.
So ist es. Als ich 1997 mit dem Ingenieur-Studium fertig war, musste ich einen Job suchen. Dies obwohl jährlich nur gerade 25 Personen diesen Studiengang abschliessen. Heute bekomme ich für meinen Betrieb nicht einmal Quereinsteiger, geschweige denn Ingenieure. Da muss ich nicht einmal anklopfen. Die Nachfrage hat sich massiv geändert. Das gilt nicht nur für unsere Branche. Der Fachkräftebedarf ist ja am Schluss hausgemacht, indem wir – vereinfacht gesagt – zu wenig Kinder produzieren. Unsere Wirtschaftsleistung steigt, der Bedarf steigt, das Volumen steigt und irgendwie müssen wir das abdecken.
Da das nötige Personal längst hätte «produziert» werden müssen, bleibt als Lösung für das Problem die Zuwanderung oder die Digitalisierung. Wie sieht Ihre Prognose für unsere Wirtschaftsregion aus: Kann KI (Künstliche Intelligenz) den Fachkräftemangel entkräften?
Die KI wird zweifellos neue Jobprofile umschreiben. In diesem Sektor wird in den kommenden Jahren viel Neues kommen und vieles wird vereinfacht werden.
Arbeiten Sie in Ihrem Betrieb bereits mit KI?
Ja, wir hatten erst vor wenigen Wochen eine interne Schulung, an der rund 40 Mitarbeitende teilnahmen. Aktuell kommt KI vor allem im Büro zum Einsatz. Aber auch im Bausektor wird das die Zukunft sein. Das Schlagwort hier ist «Building Information Modeling» kurz BIM. Dabei handelt es sich um einen ganzheitlichen Prozess zum Erstellen und Verwalten von Informationen für ein Bauobjekt. Basierend auf einem intelligenten Modell, das durch eine Cloud-Plattform aktiviert wird, integriert BIM strukturierte, multidisziplinäre Daten, um eine digitale Darstellung eines Objekts über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu erstellen – von der Planung über den Entwurf bis hin zum Bau und Betrieb. BIM wird es uns künftig ermöglichen, Teile so vorzufertigen, dass sie auf dem Bau nur noch verbunden werden müssen. Dafür brauchst du keine Fachkräfte mehr, du kannst jemanden anlernen.
KI wird also auch auf dem Bau gewisse Jobs überflüssig machen?
Ich gehe davon aus, dass branchenübergreifend aktuelle Jobbilder verschwinden und durch neue ersetzt werden. Angst, dass einem die KI den Job wegnimmt, braucht man deshalb trotzdem nicht zu haben. Entscheidend ist, dass man weiss, wie mit dieser Technologie umzugehen ist und sie sinnvoll einsetzen kann. Für Betriebe, die vom Fachkräftemangel betroffen sind, ist ein solches Tool extrem wertvoll. Es hilft, trotz fehlendem Personal, die nötige Produktivität und Effizienzsteigerung zu erreichen. Faktisch werden durch KI keine Stellen abgebaut, denn diese Stellen sind ja gar nicht besetzt. Stattdessen versuchen wir, das Volumen trotz weniger Personal durch mehr Digitalisierung aufrechtzuerhalten. Mit all den Arbeitskräften, die in den kommenden Jahren pensioniert werden, entsteht eine Lücke, die gefüllt werden muss. An dieser Stelle könnten wir auch gleich noch über die Zuwanderung sprechen.
Die zweite Lösung zur Deckung des Fachkräftebedarfs ...
Wir brauchen die Zuwanderung. Ohne Zuwanderung hätten wir noch ein grösseres Problem. Alle, die sagen, man muss die Zuwanderung stoppen, die sollen mir bitte erklären, wie wir dann unseren Wohlstand, unsere Produktion, unsere Dienstleistungen in der Schweiz gewährleisten wollen. Ich weiss es nicht.
Mehr Personen bedeutet allerdings auch mehr Platzbedarf.
Und hier liegt Arbons grosse Chance, weil wir noch Flächen haben, die bebaut werden können. Es werden in den kommenden Jahren schweizweit tausende von Wohnungen fehlen. Wenn wir uns als Region in der Zwischenzeit so positionieren können, dass wir als Arbeits- und Wohnort attraktiv sind, gibt das uns und unseren Unternehmen einen klaren Standortvorteil.
Hier setzt auch die «Initiative Zukunft» an. Das Projekt zur Standortförderung Arbons läuft seit etwas mehr als einem Jahr. Die AVA wie auch Ihr Betrieb «Die Klimamacher» waren von Anfang an mit dabei. Wie schätzen Sie den Erfolg der Initiative bisher ein?
Sieht man sich die Zahlen unserer Blogbeiträge und auf Social Media an, sind diese weiterhin steil steigend. Das bedeutet, dass unsere Beiträge gesehen und wahrgenommen werden. Dass bereits ein Jahr nach der Lancierung die Mitgliederbeiträge fast gleich hoch sind, wie das Kapital, das uns die Stadt zugesprochen hat, zeigt zudem, dass die Industrie und die Wirtschaft daran glauben, dass sie in etwas Gutes investieren. Das ist ein Erfolg. Jetzt gilt es, Konstanz ins Projekt zu bringen, so dass unsere Standortförderer auch in zwei Jahren noch sagen: Ja, dieses Projekt bringt mir etwas.
Welche konkreten Massnahmen werden hierfür ergriffen?
Die nächste Massnahme ist unsere Teilnahme an der «Messe am See», an der auch alle Standortförderer involviert sind. Denn es gilt nun, die Initiative bei der breiten Bevölkerung bekannt zu machen. In einem nächsten Schritt wollen wir gemeinsam mit der AVA, dem GTOB und der Bürgergemeinde Arbon unsere Netzwerkanlässe gezielt koordinieren. Wir stellen fest, dass es aufgrund der Fülle an Anlässen immer schwieriger wird, die Menschen zu mobilisieren. Statt dass also jeder sein eigenes Süppchen kocht, spannen wir lieber zusammen und realisieren gemeinsam etwas Richtiges.
Damit liefern Sie das Stichwort für einen Themenwechsel: An der GV 2023 des AVA haben Sie einen möglichen Zusammenschluss mit dem Arbeitgeberverband Romanshorn und dem Industrieverein Amriswil in Aussicht gestellt. Wie steht es aktuell um ein solches Fusionsprojekt?
Ich bin der Treiber dieses Projekts, weil ich der Ansicht bin, dass eine Arbeitgebervereinigung im Oberthurgau ausreicht. Wir sind heute noch organisiert wie vor hundert Jahren, dabei sind wir längst über die Gemeindegrenzen hinaus miteinander vernetzt. Mit nur einer Dachorganisation im Oberthurgau liessen sich Ressourcen bündeln und Synergien nutzen. So wie wir das beispielsweise heute schon mit unserer Geschäftsstelle tun, die von Amriswil und Romanshorn teilweise mitgenutzt wird.
Sehen das die anderen beiden Verbände ebenso?
Amriswil wäre sofort dabei. Romanshorn ist zurückhaltend. Wir stehen in regelmässigem Austausch mit beiden Vorständen. Es handelt sich um ein Thema, bei dem wir entschlossen voranschreiten werden. Unser Ziel ist es, eine gemeinsame Basis zu finden, die allen Beteiligten zugutekommt – mit der Hoffnung, dass wir zusammen mit Romanshorn und Amriswil einen Weg vorwärts gehen können.
Kann man den lokalen Bedürfnissen mit einem Oberthurgauer Arbeitgeberverband überhaupt noch gerecht werden?
Natürlich. Das ist eine Frage der Organisation. Es ist klar, dass jede Stadt in einem solchen Verbund eine Vertretung braucht. Das liesse sich beispielsweise mit Sektionen machen, wie man das vom GTOB her bereits kennt, der eine Sektion Roggwil-Freidorf hat. Unsere Aufgabe ist und bleibt, uns für gute Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft und Industrie einzusetzen. Wir können nicht dem einzelnen Mitglied helfen, seine Produkte zu entwickeln. Aber wir können Brücken bauen, Netzwerke anbieten und Kontakte herstellen. Das ist unsere Aufgabe als Wirtschaftsverband. Und diese Aufgabe erfüllen wir umso besser, je enger wir im Oberthurgau zusammenarbeiten.
Neue Arbeitsmodelle um Fachkräfte zu gewinnen
Die Umstellung auf erneuerbare Energien beschert der Gebäudetechnikbranche volle Auftragsbücher. Die Kehrseite der Medaille: Vielerorts fehlt das Personal, um der Auftragslage gerecht zu werden. In seinem Betrieb, der Klimamacher AG mit Sitz in Arbon, hat Dennis Reichardt deshalb verschiedene Neuerungen eingeführt, um sich als attraktiven Arbeitgeber im Markt zu positionieren. Dazu gehören die 4,5-Tage-Woche mit flexiblen Arbeitszeiten (ohne Lohneinbussen), bessere Pikettzulagen, Teilzeitpensen bei allen Stellen und der Möglichkeit, zusätzliche Ferientage zu kaufen. Die betrieblichen Kosten für diese Neuerungen sind laut dem CEO der «Klimamacher» gering und nicht nur in Grossbetrieben realisierbar.