Wechselbad der Gewählten
Laura Gansner101 Arbonerinnen und Arboner liessen sich im Frühjahr 2023 zur Wahl ins Stadtparlament aufstellen. 30 davon starteten im Mai des letzten Jahres als neu konstituiertes Stadtparlament gemeinsam in die Legislatur 2023 bis 2027. Doch noch vor diesem Start wurde bereits der erste Sitzwechsel angekündigt: Astrid Straub (BFA) verzichtete kurz nach ihrer Wahl auf ihren Sitz im Stadtparlament, so dass dieser von ihrem Parteikollegen Reto Gmür übernommen wurde. Der erste offizielle Rücktritt erfolgte noch im selben Jahr: Im November trat Heidi Heine (Grüne) aus dem Stadtparlament zurück. Seither reihen sich die Rücktrittsmeldungen beständig aneinander (siehe Kasten unten). Aktuell sind es damit ab Februar 2025 mindestens zehn Sitze, die nicht mehr mit der Originalbesetzung belegt sein werden. Eine Zahl, die im Vergleich mit den Vorjahren zu denken gibt.
Rücktrittstendenz steigend
Ein Blick zurück verrät: Rücktritte während einer laufenden Legislatur gehören zum Parlamentsbetrieb dazu. So traten in der Legislatur 2011 bis 2015 sechs Mitglieder zurück, 2015 bis 2019 waren es dann ganze 13 Mitglieder. Diese Legislaturperiode war geprägt von einem parteiinternen Zerwürfnis der SVP und einer grundsätzlich angespannten politischen Situation, welche an den Gesamterneuerungswahlen 2019 in der Neubesetzung aller Stadtratssitze gipfelte. In der Legislatur 2019 bis 2023 erfolgten insgesamt nur vier Rücktritte aus dem Stadtparlament.
In diesem Kontext lässt sich die aktuelle Rücktrittsquote als tendenziell auffällig einordnen – schliesslich sind die Wahlen für das Arboner Stadtparlament noch keine zwei Jahre her. Die Rücktritte erfolgen zwar nicht ohne Begründung. Mehrheitlich ist diese privater oder beruflicher Natur. Einzig der Rücktritt von Pascal Ackermann (SVP) hebt sich davon ab. Dieser trat aus Protest auf die «Ineffizienz» des Parlamentsbetriebs («felix.» Nr. 5/24) zurück. Dennoch geben die meisten Zurückgetretenen an, die Belastung des Parlamentsbetriebs lasse sich nicht mehr mit ihren übrigen Aufgaben vereinbaren. Es stellt sich also die Frage, ob hinter den Rücktritten nicht doch mehr steckt als eine zufällige Häufung.
Sind es «die Jungen»?
Eine Nachfrage bei den Präsidentinnen und Präsidenten der im Parlament vertretenen Parteien und der Politgruppierung XMV ergibt ein durchmischtes Bild. Konsens herrscht grundsätzlich darüber, dass die Häufung der Rücktritte als solche registriert wurde. Fluktuation habe es zwar schon immer gegeben, betont Samra Ibric, Parteipräsidentin der FDP Arbon. Doch die Ansammlung in der aktuellen Legislatur sei dennoch ein Thema, das nicht unbeachtet bleiben sollte: «Ich glaube, die Attraktivität der Parlamentsarbeit hat abgenommen, insbesondere bei Jüngeren.» Dies führt Ibric zum Teil auf die fehlende Flexibilität der Parlamentsstrukturen zurück, die im Vergleich mit den Lebensentwürfen junger Personen eher starr sind. Ihr Vorschlag ist es, als Stadtparlament «mit der Flexibilität mitzugehen». Die Rücktritte der «Jungen» – lose definiert als Personen unter 40 Jahren – ist nicht nur bei Ibric ein Thema.
So merkt Cornelia Wetzel Togni, Parteipräsidentin der Grünen Arbon, an, dass sie es für bedauerlich hält, dass «vorwiegend Junge zurücktreten». Dies zeige für sie, dass der Aufwand für gute Parlamentsarbeit zu hoch sei. Auch die Präsidentin der EVP Arbon, Judith Huber, hält die Rücktritte junger Parlamentsmitglieder für bedenklich und fügt an: «Parlamentsarbeit ist definitiv nicht zu unterschätzen.» Tatsächlich sieht die Relation der Altersverhältnisse bei den Rücktritten zur Zeit wie folgt aus: Von den anfangs genannten Parlamentsmitgliedern sind sechs Personen unter und vier Personen über 40 Jahre alt. Die Differenz ist demnach nicht so auffällig, als dass sich die Behauptung aufstellen lassen könnte, die Rücktrittshäufung lasse sich allein anhand des Altersunterschieds erklären.
Parteien in der Verantwortung
Ein anderer Erklärungsansatz bezieht sich auf die Arbeit der Parteien vor den Wahlen. Gerri Hagspiel, Co-Präsident der Mitte Arbon, betont, dass es in der Verantwortung der Parteien liege, die Kandidierenden ausführlich über die anstehende Aufgabe und Verantwortung aufzuklären: «Es braucht eine grosse Leidenschaft, damit man die nötige Arbeit leisten kann, um diesem Amt gerecht zu werden.» Auch Peschee Künzi, Sprecher der XMV, verweist auf die hohe Belastung durch die Amtsausführung: «Der Aufwand für seriöse Parlamentsarbeit ist sehr hoch.» Parteipräsident der SP Arbon, Felix Heller, erklärt, dass dieser Aufwand auch auf die immer komplexeren Sachverhalte zurückzuführen sei, die im Parlament verhandelt würden: «Will man zum Beispiel ein Dossier von 100 Seiten nicht nur überfliegen, sondern ausführlich bearbeiten, braucht man dafür neben Kompetenz auch viel Zeit – und die muss man haben.»
Rücktritte in der Legislatur 2023-2027
Fraktion SP/Grüne:
Heidi Heine (Grüne): 2019 bis November 2024; Irena Noci (SP): 2022 bis Mai 2024; Felix Heller (SP): 2011 bis Mai 2024; Lukas Auer (SP): 2016 bis Februar 2025; Linda Heller (SP): 2019 bis Dezember 2024
FDP/XMV:
André Mägert (XMV): 2019 bis Mai 2024; Isabelle Fuchs (FDP): 2023 bis höchstens Februar 2025
Die Mitte/EVP:
Migga Hug (Die Mitte): 2019 bis Dezember 2023
SVP:
Pascal Ackermann: 2017 bis März 2024
Kontroverse Amtszeitbeschränkung
Koni Brühwiler, Präsident SVP Arbon, betont im Hinblick auf die Suche nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten für eine Wahl, dass diese allen Parteien Mühe bereite. «Es ist schwierig, für eine Liste nur schon 15 Leute zu finden, die das Amt ausführen wollen und können.» In Anbetracht dessen stehe für ihn die aktuelle «Sesselkleber-Initiative» der Bürger Fraktion Arbon quer im Raum («felix.» Nr. 36/24). «Dass aktuell Unterschriften gesammelt werden, damit die Amtszeit auf zwölf Jahre begrenzt werden kann, ist für mich unverständlich.» Damit ist er nicht allein. Ähnlich klingt es auch bei Felix Heller, Gerri Hagspiel, Peschee Künzi und Judith Huber.
Nicht nur die Schwierigkeit, überhaupt geeignete Kandidierende zu finden, sondern auch der Verlust von Know-how wird betont. «Die Qualität des Parlaments leidet unter einer Amtszeitbeschränkung», fasst Peschee Künzi (XMV) zusammen. Mitinitiator der Initiative, Reto Gmür, sieht es genau umgekehrt: «Vielleicht sind ja genau die Alteingesessenen Schuld daran, dass Arbon nicht vom Fleck kommt?» Für ihn stellt die Initiative deshalb eine qualitative Aufwertung dar. Bei den aktuellen Rücktritten sieht er derweil in der Struktur des Parlaments kein Problem, sondern verweist auf die Häufung des Phänomens in der Fraktion SP/Grüne, aus welcher die Hälfte aller Rücktritte stammt (zu den Rücktritten bei der SP: «felix» Nr. 41/24). Felix Heller, Parteipräsident der SP, hält dem entgegen, dass die SP/Grüne-Fraktion die grösste im Parlament ist, womit logisch sei, dass sie in absoluten Zahlen am meisten Rücktritte zu verzeichnen hat. Mit Ausnahme von Irena Noci haben zudem alle Mitglieder der Fraktion SP/Grüne mindestens eine ganze Legislatur absolviert. Und auch parteiübergreifend lässt sich festhalten: Acht der zehn Zurückgetretenen haben mehr als vier Jahre lang im Arboner Stadtparlament mitgewirkt. Somit kann auch eine mangelnde Amtsvorbereitung der neuen Mitglieder seitens der Parteien nicht als Ursache der Rücktrittswelle ausgemacht werden. Deren Ursprung liegt wohl in einer Mischung der genannten Erklärungsansätze. Sollten sich die Abgänge in der laufenden Legislatur jedoch weiter häufen, täten die Parteien gut daran, die Situation eingehend zu analysieren, um den funktionierenden Parlamentsbetrieb sicherzustellen.
Thurgauer Legislativen im Vergleich
Im Thurgau gibt es drei mit Arbon vergleichbare Legislativen: Der Kreuzlinger und Frauenfelder Gemeinderat sowie das Stadtparlament Weinfelden.
In Kreuzlingen befinden sich die Rücktrittszahlen aus dem 40-köpfigen Gemeinderat in den vergangenen drei Legislaturen konstant im Bereich von knapp einem Viertel: 2011-2015 gab es zehn, 201 5 - 2019 neun und 2019-2023 acht Rücktritte. In der aktuellen Legislatur 202 -2027 sind bereits acht Rücktritte eingegangen, was einen Aufwärtstrend erahnen lässt. In Frauenfeld, in dessen Gemeinderat ebenfalls 40 Mitglieder sitzen, kommt es im Vergleich zu durchschnittlich mehr Rücktritten: 2011-2015 waren es 15, 2015-2019 ganze 18 und 2019-2023 wieder 15 Rücktritte. In der aktuellen Legislatur 2023-2027 sind hier bereits elf Rücktritte über die Bühne gegangen, womit sich annehmen lässt, dass sich die Zahlen voraussichtlich im Rahmen der letzten Jahre bewegen werden. Das Weinfelder Stadtparlament hat wie Arbon 30 Mitglieder. Die Rücktrittszahlen lassen keinen klaren Trend erkennen: 2011-2015 waren es neun, 2015-2019 sechs und 2019-2023 elf Rücktritte. In der aktuellen Legislatur hebt sich das Weinfelder Stadtparlament mit drei Rücktritten von den anderen Gremien ab.
Was diese Zahlen einerseits verraten ist, dass es sich bei Rücktritten aus politischen Ämtern in Stadtparlamenten beziehungsweise Gemeinderäten nicht um ein Phänomen handelt, welches nur Arbon betrifft. Dass die Rücktritte – mit Ausnahme von Weinfelden – in der laufenden Legislatur tendenziell hoch sind, legt aber auch die Vermutung nahe, dass es sich hier um ein strukturelles, gesellschaftliches und/oder politisches Problem handeln könnte.